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„Cyberchondrie”: Wie man den ständigen Zwang, den eigenen Gesundheitszustand zu googeln, in den Griff bekommt

Durch kognitive Verhaltenstherapie kann Hypochondrie gelindert werden. (Bild: Getty Images)
Durch kognitive Verhaltenstherapie kann Hypochondrie gelindert werden. (Bild: Getty Images)

Ich war mir meiner Hypochondrie und ihrer Fähigkeit, mich zum irrationalen Denken zu verleiten, schon immer extrem bewusst. Es hat schon begonnen, bevor ich ein Teenager war. Ich bekam ab und zu Unterleibsschmerzen, die sich anfühlten, als würden Rasierklingen meine Nervenenden nacheinander aufschlitzen. Bei unzähligen Krankenhausbesuchen baten mich die Schwestern, den Schmerz auf einer Skala von eins bis zehn einzustufen. Zehn erschien mir wie eine Antwort, die dem Sterben vorbehalten ist, und obwohl es sich oft so anfühlte, wusste ich es besser. Also sagte ich „neun.“ Und trotzdem taten die Ärzte meine Bedenken ab und Tests ergaben, dass mir nichts fehlte. Aus Angst, der Schmerz könne plötzlich auftreten, hatte ich Angst, das Haus zu verlassen, und wenn ich es tat, kauerte ich mich zusammen und wartete stundenlang, bis das Gefühl verschwand.

Irgendwann beschloss ich: Wenn Ärzte nicht herausfinden können, was mit mir nicht stimmt, dann muss ich es selbst tun. In einem medizinischen Online-Forum für Patienten mit diagnostizierten Schmerzen lernte ich ein Mädchen kennen, die ähnliche Schmerzen beschrieb, wie ich sie hatte. Ein Nutzer mutmaßte, sie könne an einem Nabelbruch leiden – ein kleines Loch in der Bauchdecke, die sich entzündet, wenn die Eingeweide durchdrücken. Ein Arzt in der Notaufnahme – vermutlich der zwölfte, der mich untersuchte – bestätigte schließlich, dass das auch mein Problem war und wenige Wochen danach wurde ich operiert.

Die Unterleibsschmerzen verschwanden zwar, aber meine Angst blieb. Beinahe zehn Jahre später gehört es noch immer zu meinem Tagesablauf, meinen Gesundheitszustand zu googeln. An guten Tagen kann ich medizinische Bedenken in wenigen Minuten zerstreuen. An schlechten Tagen verbringe ich Stunden damit, mich durch Foren oder medizinische Enzyklopädien zu klicken und meine Beschwerden in ein Online-Tool zu tippen, das Symptome analysiert. Wenn das Internet eine lange Liste möglicher Krankheiten und medizinischer Anomalitäten ausspuckt – angefangen bei der gewöhnlichen Migräne bis hin zur seltensten Form von Krebs –, durchströmt mich gleichermaßen ein Gefühl der Panik und der Erleichterung. Ich weiß, dass die Sache diesen Sommer außer Kontrolle geriet, als ich vor einem Zwölf-Stunden-Flug den gesamten Vortag damit verbrachte, mich über Vorfälle akuter Blinddarmentzündungen in Flugzeugen zu informieren.

Zur selben Zeit, im September 2017, fanden britische Forscher heraus, dass Menschen mit Hypochondrie – die Zahlen wurden auf 20 Prozent geschätzt — dem National Health Service jedes Jahr umgerechnet 475 Millionen Euro kosten. In den USA suchen schätzungsweise 80 Prozent der Internetnutzer online nach Informationen, die ihre Gesundheit betreffen – ein problematischer Trend, wenn man bedenkt, dass beinahe die Hälfte dieser Suchanfragen extreme (und höchst unwahrscheinliche) Ursachen zutage fördern. Egal ob Menschen mit Hypochondrie eine tatsächliche Krankheit haben oder nicht – allein die Angst kann physische Symptome hervorrufen, etwa erhöhte Herzfrequenz, Brustschmerzen und Schwindel. Und genau das treibt fanatische Google-Nutzer noch weiter in die ambivalenten Tiefen des Internet.

Zur Lösung dieses Problems schlägt eine Studie des Imperial College London unter dem eremitierten Professor Peter Tyrer vor, man könne Hypochondrie-Patienten in Krankenhäusern kognitive Verhaltenstherapie (KVT) anbieten, um Kosten zu sparen und die Bedenken der Patienten zu lindern. „Bisher gab es keinen Beweis, dass Hypochondrie in einem medizinischen Setting erfolgreich behandelt werden kann“, sagte Tyrer nach Beendigung der Studie gegenüber Medical News Today. „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass [KVT für Hyperchondrie] relativ günstig ist, mit etwas Training von Krankenschwestern angewendet und ganz leicht in die Krankenhausumgebung integriert werden kann.“

Christine Purdon, Psychologieprofessorin an der University of Waterloo in Ontario, Kanada, die sich auf Angststörungen und KVT spezialisiert hat, erklärt, dass Angst durch eine wahrgenommene Bedrohung ausgelöst wird – und bei Hypochondrie ist es nicht anders. „Es ist das Erste, das wir tun, wenn wir eine Bedrohung wahrnehmen: Wir suchen nach Informationen, um einzuschätzen, wie groß die Gefahr ist, wie akut, und was wir deshalb unternehmen müssen“, erzählt sie Yahoo Lifestyle. Bei Hypochondrie äußert sich das oft in obsessiver Recherche, um sich eine gewisse Form der Beruhigung zu holen.

Dieser natürliche Gedankengang kann auf die Anatomie unseres Gehirns angewendet werden: „Im Grunde genommen gibt es eine Datenautobahn. Um auf eine Gefahr angemessen reagieren zu können, verlassen wir uns auf die Erfahrung. Sobald wir ängstlich werden, können andere relevant erscheinende Ereignisse besser abgerufen werden“, sagt Purdon. Daher sollte man statt der Suche nach Fakten (die Google-Suche nach „Halsschmerzen“ führt in einer von drei Anfragen zu „Krebs“, während das tatsächliche Risiko für Kehlkopfkrebst bei 0,3 Prozent liegt) den Vergleich mit einem Cousin oder einem Freund anstellen, der mit einer unheilbaren Krankheit diagnostiziert wurde.

„Die Menschen wollen ihre Angst in den Griff bekommen, nicht die Krankheit“, sagt Purdon. „Hier wird die KVT relevant. Sie hilft den Menschen dabei, ihre Gedanken als Hypothesen und nicht als Fakten wahrzunehmen.“

Da Angst Schlussfolgerungen als Fakten erscheinen lässt, können Menschen mithilfe von KVT lernen, geistig einen Schritt zurückzutreten und ihre Sorgen durch rationale Gedanken zu ersetzen. Purdon benutzt den Vergleich mit einer Filmkamera, mit der die Menschen herauszoomen können, um die gesamte Szene zu sehen – das, was tatsächlich in dem Moment passiert und nicht ein mögiches Ereignis in der Zukunft, vor dem sich die Person fürchtet.

Purdon sieht zwar die Vorteile darin, den Zugang zu KVT zu erweitern, ihrer Meinung nach gibt es allerdings auch Dinge, die man zuhause machen kann, um die Angst in den Griff zu bekommen. „Wenn ich mit Menschen arbeite, bitte ich sie, sich einzugestehen, dass es eine hundertprozentige Chance gibt, dass diese Verhaltensweisen ihr Leben dramatisch beeinflussen, und all das nur, um etwas sehr Unwahrscheinliches abzuwehren“, sagt sie. „Jemand mit Hypochondrie fährt zwar bedenkenlos zum Arzt, aber die Wahrscheinlichkeit eines Autounfalls ist viel höher als jene, an der gefürchteten Krankheit zu leiden. Wir tun jeden Tag „riskante“ Dinge. Sogar wenn man sich dazu entschließt, immer zuhause zu bleiben, könnte die Decke einstürzen oder Sie könnten an Ihrer Zahnpaste ersticken.“ Sie empfiehlt, „Verhaltensexperimente“ auszuprobieren, um herauszufinden, wie man sich wirklich fühlt, wenn man Online-Informationen nachjagt (oder nicht).

Was mich betrifft, so ermutigte sie mich, die nächsten zehn Tage nach unserem Gespräch nicht online zu gehen oder medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Am selben Tag, kurz nach unserem Gespräch, hatte ich den Verdacht einer Harnwegsinfektion. Ich setzte mich vor den Computer, um den Symptom-Checker zu öffnen und trommelte mit den Fingern auf meine Tastatur, während ich den blauen „Weiter“-Button anstarrte. Anstatt ihn zu klicken, holte ich tief Luft, schloss den Laptop und machte einen Spaziergang. Ein Tag verging, dann ein zweiter, dann eine Woche. Es ging mir gut. Alles fühlte sich normal an.

Ich verspüre noch immer den Drang, meine Symptome zu googeln, wenn sich mein Körper irgendwie falsch anfühlt, aber dann erinnere ich mich daran, dass die Suchergebnisse nichts ändern werden. Wenn ich mich daran erinnere, dass die Google-Suche mir bei der Nabelbruch-Diagnose geholfen hat, zwinge ich mich, daran zu denken, dass es eine einmalige Sache war – eine Situation, die ich nicht wiederholen musste. Stattdessen mache ich weiter mit meinem Alltag, versuche mich zur Vernunft zu mahnen und erinnere mich an Purdons Worte: „Verabschieden Sie sich von der Idee, dass schlimme Dinge passieren können und denken Sie daran, dass Sie Ihr Leben weiterleben dürfen. Unser ganzes Leben besteht aus Risiken und das ist okay so.“

Nicole Schmidt