Diese Dinge brauchen wir für ein erfülltes Leben – sagt die Lebenslaufforschung
Ein erfülltes und zufriedenes Leben gelebt zu haben, davon träumen wir doch alle. Doch mal abgesehen davon, dass Wünsche und Bedürfnisse sehr individuell sind, gibt es ein paar Erkenntnisse aus der Wissenschaft, die uns zeigen: Das macht ein erfülltes Leben aus.
Wann wir das Gefühl haben, wirklich gelebt zu haben, verrät uns – wie so oft – die Wissenschaft und die Lebenslaufforschung
Denn schließlich wissen wir doch alle: Wir leben nur einmal! Umso wichtiger, dieses eine Leben bestmöglich zu nutzen.
Jedes Leben – und ja, das ist eine Binsenweisheit – ist anders. Beim einen geht es permanent auf und ab, bei der anderen geht es im Großen und Ganzen eher konstant zu. Sprich: Jedes Leben ist unvorhersehbar und erstens kommt es anders und zweitens als man denkt, nicht wahr? Dennoch stellen sich einem natürlich immer die Fragen: Gibt es etwas, das allen Leben gemein ist? Was prägt ein Leben üblicherweise? Und kann man darauf positiv Einfluss nehmen? Fragen wie diesen wird vermutlich nachgegangen seit Menschen gedenken, und auch die Wissenschaft versucht seit Langem schon, Antworten auf diese und ähnliche Fragen zu finden.
Wie erforscht man ganze Leben?
Nur gibt es dabei ein kleines großes Problem: Wie soll man ein ganzen Leben untersuchen? Forschungsarbeiten über einen solch langen Zeitraum sind nicht nur extrem kostspielig, sie benötigen auch Forschende, die über mehrere Jahrzehnte am Ball bleiben und Freiwillige, die sich über den selben Zeitraum hinweg der Forschung zur Verfügung stellen. Klar, man kann sich auch rückblickend Ereignisse aus der Kindheit und Jugend schildern lassen, aber wie genau und sicher sind solche Erinnerungen? Mittlerweile mag vieles durch Fotos und entsprechende Aktivitäten in den Sozialen Medien recht gut dokumentiert sein, aber das ist eine Entwicklung, die noch vergleichsweise jung ist und sich daher noch nicht auf ganze Leben anwenden lässt.
Doch es gab tatsächlich einige Forschende, denen es gelungen ist, Menschen von der Geburt bis zum Tod zu begleiten und ihre Leben zu untersuchen, Jahr für Jahr, und sich dann aktuell berichten ließen, wie die jeweiligen Leben empfunden wurden. Dadurch konnten die Forschenden eine Art Biografie des Lebensglücks und der -erfüllung erstellen, die in der Menge Rückschlüsse darauf zulassen, welche Dinge auf welche Art und Weise Einfluss auf Leben nehmen. Das bisher größte bekannte Forschungsprojekt zur Klärung der Gründe für ein erfülltes Leben wurde von Wissenschaftler*innen an der Harvard University in Boston begonnen – und zwar bereits im Jahr 1938. Und diese Untersuchung hält immer noch an, also seit nunmehr 86 Jahren. Dabei werden und wurden die Lebensläufe von 814 Menschen untersucht, von Männern und Frauen, die zwischen 1910 und 1930 geboren wurden. Und dabei wurde auf sämtliche Facetten geschaut: die Familiengeschichte, schulische Laufbahn, Studienzeit, etwaiger Militärdienst, beruflicher Werdegang, Ruhestand; und auch die sozialen Kontakte wurden unter die Lupe genommen, Krankheiten, Feiern, Jubiläen, Saufgelage dokumentiert und auch festgehalten, wie Menschen auf die Unsäglichkeiten des Lebens reagiert, wie sie Probleme gelöst und Krisen bewältigt haben, und ob sie gestärkt oder geschwächt daraus hervorgegangen sind. Auch regelmäßige medizinische Untersuchungen waren und sind Teil des Forschungsprojekts. Zuletzt wurden die Proband*innen 2014 befragt, doch es gibt bereits eine Nachfolgestudie mit den Kindern der ersten Proband*innengeneration. Doch das Wichtigste: Die ersten Daten geben bereits Auskunft auf die Frage, was ein erfülltes Leben ausmacht.
Es gibt sechs Aufgaben, die man im Leben meistern sollte
Und die womöglich bemerkenswerte Erkenntnis dieser Studie ist die Widerlegung der Redewendung: Menschen ändern sich nicht. Denn die Studie zeigt deutlich: Sie tun es doch! Lange dachte man, das Leben verlaufe im Großen und Ganzen wie eine auf- und wieder absteigende Kurve, bei der auf Wachstum und Aufschwung irgendwann Verfall und Tod folgen. Doch stattdessen kann man sich ein Leben eher wie einen Stein vorstellen, der ins Wasser fällt und Wellen schlägt, die sich in Ringen ausbreiten.
Dieses Lebensbild hat der Entwicklungspsychologe Erik Erikson bereits in den 1940er Jahren entwickelt. Die Wissenschaftler*innen der Harvard-Studie haben diese Lebenskreise mit Aufgaben gleichgesetzt, die sich jedem Menschen stellen, und diese in sechs unterschiedliche Aufgaben unterteilt. Wer diese sechs Aufgaben im Laufe seines Lebens meistert, der hat gute Chancen, am Ende das Gefühl zu haben, ein erfülltes Leben geführt zu haben. Es handelt sich um folgende Aufgaben:
Man muss sich als junger Mensch sowohl räumlich als auch emotional so weit vom Elternhaus lösen, dass sich eine eigenständige Identität herausbilden kann.
Man muss sich beruflich in einem passenden Feld etablieren und dort Anerkennung finden.
Gleichzeitig gilt es, positive Erfahrungen hinsichtlich Intimität zu machen, und zwar durch eine erfüllte und mindestens eine Dekade umspannende stabile Partnerschaft.
Darauf folgt die Weitergabe des Lebens an die nächste Generation, sprich: Elternschaft. Aber auch Menschen, die keine Kinder haben (können), können diese Aufgabe meistern, wenn sie eine Sorge für Jüngere entwickeln und ihre Erfahrungen weitergeben – das können zum Beispiel Patenkinder sein.
Die Weitergabe von Werten und das Bewahren dieser ist eine weitere Aufgabe, die es nach Meinung der Wissenschaftler*innen zu meistern gilt.
Frieden schließen mit sich selbst, dem zuvor gelebten Leben und der eigenen Biografie – mit allen Aufs und Abs, sprich: Spätestens am Ende des Lebens im Einklang mit sich selbst zu sein.
Lebenserfüllung ist unabhängig von sozialen Klassen, sondern eine Frage der Liebe
Und die gute Nachricht ist, dass all das durchaus auch erreicht werden kann, dass man also durchaus auch ein erfülltes Leben führen kann, wenn die gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht so gut sind, man also beispielsweise in schwierigen Verhältnissen aufwächst. Denn dafür braucht es weder Reichtum noch Intelligenz. Vielmehr zeigte die Harvard-Studie, dass Menschen, unabhängig von ihrer sozialen Klasse, eher glücklich (etwa 25%) oder eher traurig (etwa 16%) sind. Die Glücklichen blieben von schweren Krankheiten verschont, fühlten sich in ihrem Leben wohl und waren grundsätzlich zufrieden. Die Traurigen haderten hingegen deutlich mehr mit ihrem Leben, waren häufiger krank und dementsprechend unglücklicher. Und dann gab es noch diejenigen, bei denen sich Glück und Unglück die Waage hielten – die übrigen erreichten das 65. Lebensjahr gar nicht erst.
Eine interessante Erkenntnis war, dass sich sowohl die Glücklichen als auch die Unglücklichen überraschend gleichmäßig auf die sozialen Schichten verteilt haben – und waren auch hinsichtlich der Intelligenz breit gestreut. Vielmehr gab es einen anderen, ganz wichtigen Faktor, der einen entscheidenden Ausschlag dafür gab, ob man ein eher positives oder negatives Lebensgefühl entwickelt hat: Wie sehr man bereit war, andere Menschen in sein Leben zu lassen und Vertrauen zu anderen aufzubauen. Die Fähigkeit zu lieben und sich lieben zu lassen war DER ausschlaggebende Faktor, der zu weiten Teilen darüber entschied, ob man sein Leben als erfüllt oder verschwendet angesehen hat. Das sollte man sich also immer und immer wieder vor Augen führen.
Auch andere Studien belegen ja die positive Kraft langanhaltender und stabiler Liebesbeziehungen, denn Menschen, die in solchen Partnerschaften leben, haben statistisch gesehen eine deutlich höhere Lebenserwartung. Aber auch andere innige Beziehungen, beispielsweise zu Geschwistern, haben stets dafür gesorgt, dass Menschen sich besser gefühlt haben
Was beeinflusst die Qualität eines Lebens?
Diese Frage kann man (generalisiert) recht einfach beantworten, zumal sich die Chance dafür zu einem großen Teil steuern lässt: Wer nicht raucht, höchstens in Maßen Alkohol trinkt und keine anderen Drogen konsumiert, wer ausgewogen und nicht im Übermaß isst, sich regelmäßig bewegt, eine Ausbildung absolviert hat, in einer stabilen Partnerschaft lebt und sich im Laufe seines Lebens bewährte Krisenbewältigungsstrategien zugelegt hat, der hat gute Chancen, auch mit 75 Jahren noch in guter Verfassung zu sein. Wer nur wenige dieser Faktoren umsetzt, das zeigt die Forschung recht deutlich, hat weitaus geringere Chancen, das 75. Lebensjahr zu erreichen – und wenn ja, dann tendenziell eher von Krankheit gezeichnet.
Lebenswege sind nicht durch die Kindheit vorherbestimmt
Zum Erstaunen vieler konnte die Harvard-Studie recht eindeutig zeigen, dass man durchaus ein erfülltes Leben leben kann, wenn die Voraussetzungen dafür hinsichtlich des Elternhauses nicht gerade rosig aussahen – und das ist eine sehr gute Nachricht. Zwar ist es nicht von der Hand zu weisen, dass eine schöne Kindheit mit liebenden Eltern einen positiven Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung hat und einen guten Schutz dafür bieten, emotionale Krisen meistern zu können. Doch vielen Probanden war es nicht anzumerken, wenn ihr Start ins Leben als eher unglücklich zu bezeichnen war. Denn Menschen ist es zum Glück möglich, auch aus Krisen und aus schlimmen Situationen durchaus gestärkt hervorzugehen und die dadurch überwundenen Probleme dafür zu nutzen, sich persönlich weiterzuentwickeln. Das kann man bisweilen durchaus mit dem körpereigenen Immunsystem vergleichen, das ja in der Regel auch besser wird, je mehr Bakterien und Viren es abwehren muss (das Prinzip des Impfens). So führt eben auch das häufige Abwehren müssen von emotionalen Schädigungen dazu, einerseits ein „dickeres Fell“ zu erlangen und andererseits entsprechende Bewältigungsstrategien zu entwickeln, die einem im weiteren Verlauf des Lebens schützen und in vergleichbaren Situationen weit weniger stark aus der Bahn werfen.
Zudem führt die Entwicklung solcher Strategien und der Umstand, solche Situationen durchgemacht haben zu müssen, auch häufig dazu, dass man dieses Wissen nutzt, um anderen in vergleichbaren Situationen zu helfen – und diese Sorge und Hilfe für andere ist eben eine der sechs Aufgaben, die man im Leben meistern muss, um am Ende das Gefühl zu haben, ein erfülltes Leben geführt zu haben.
Positiv bleiben
Doch egal, wie man mit traumatischen Erlebnissen umgeht, ob mit Hilfsbereitschaft, Verdrängung, Kreativität oder Humor, wir Menschen lernen über die Jahre immer wieder, dem Leben gute Seiten abzugewinnen und es als etwas Schönes zu betrachten – zumal ein Leben ja auch nie nur schwarz und weiß verläuft. Denn auch wenn vielleicht ein nahestehender Verwandter stirbt, ist man womöglich dennoch selbst in einer stabilen Beziehung, hat Kinder und/oder einen Job, der einen mit Freude erfüllt. Und das Schöne – auch das hat die Studie gezeigt: Die Eigenschaft, positive Dinge im Leben zu sehen und zu erkennen, bleibt einem bis ins hohe Alter erhalten, selbst wenn man auf anderen Gebieten abbaut. Unsere Fähigkeit also, mit dem Umstand umzugehen, dass wir unser Leben irgendwann verlieren und sterben werden, die bleibt. Und sie steigt sogar manchmal, denn immerhin haben wir bis dahin einen reichhaltigen Erfahrungsschatz angesammelt, der uns befähigt, damit fertig zu werden. Und der am Ende eines Lebens dazu führt, dass wir das Gefühl haben, in unserer Zeit auf der Erde Erfüllung gefunden zu haben.