Gestrandet im Nirgendwo: Wie es den Lastwagenfahrern in Großbritannien geht
Aufgrund der neuen Variante des Coronavirus, die in Großbritannien aufgetaucht ist, schloss auch Frankreich vorübergehend seine Grenzen zu dem Land. Die Folge: Tausende Lastwagenfahrer blieben auf der Straße stecken und hängen vor dem Eurotunnel fest. Wie oft in solchen Notsituationen liegen Licht und Schatten eng beieinander.
Vor allem im südöstlichen Kent, kurz vor dem Hafen von Dover und dem Eurotunnel, der Großbritannien und Frankreich verbindet, staut es sich: Schätzungen zufolge hängen in der Region mehr als 10.000 Lastwagenfahrer fest. Ein nahegelegener verlassener Flugplatz wurde in einen riesigen Parkplatz umgewandelt, wo die Fahrer notdürftig versorgt werden, und an den Straßenrändern stehen die Lastwägen zu hunderten Schlange.
Mittlerweile haben sich Frankreich und Großbritannien auf eine Öffnung der Grenze geeinigt, sofern die Fahrer einen aktuellen negativen Corona-Test vorlegen können. Am Mittwoch bleibt die Lage also zunächst angespannt.
Die Geschichten, die aus dieser Ecke kommen, zeichnen sowohl ein Bild von Frust und Resignation bei Menschen, die sich im Stich gelassen fühlen, als auch von solchen, die sich nicht unterkriegen lassen wollen und von enormer Hilfsbereitschaft.
Sorge um sich und um andere
In den Aussagen, die britische Medien von den gestrandeten Fahrern einfingen, macht sich vor allem Macht- und Ratlosigkeit breit. “Wir wissen nichts, nicht einmal, ob wir vor Weihnachten nach Hause kommen”, sagte einer “BBC Radio Four” und fügte hinzu: “Ich fühle mich schlecht, schrecklich sogar.” Ein polnischer Fahrer erzählte, dass niemand ihnen sagen könne, wie lange sie noch dort festhängen würden.
Er machte auch auf die dürftige Versorgung vor Ort aufmerksam, die besonders in Zeiten von Corona bedenklich ist. So gebe es zwar Toiletten, aber keine Duschen oder andere Möglichkeiten, auf ausreichende Hygiene zu achten. Ein weiterer Fahrer wies außerdem darauf hin, dass unglaubliche viele Menschen die vorhandenen Toiletten nutzen müssten. “Das ist kein schöner Anblick.”
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Besonders rührend ist die Aussage eines rumänischen Fahrers, der Weihnachtsgrußkarten und Pakete in seinem Wagen in seine Heimat liefern sollte: “Ich fühle mich wie der Weihnachtsmann ohne Rentiere. Der Schlitten hängt fest. Ich fühle mich mies, weil diese Menschen ihre Karten und Geschenke von ihrer Familie nicht rechtzeitig bekommen.”
Corona-Tests - aber wie?
Die Corona-Frage treibt die Gestrandeten auch im Hinblick auf die Weiterreise um. Weiterreisen darf nur, wer negativ getestet wurde, und bislang gestaltet sich die Organisation der Tests als schwierig.
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“Tests wären gut, aber allein in Dover sind 1000 bis 1500 Lastwagen. Es wäre vielleicht eine gute Idee, hier Tests durchzuführen, aber damit müssten sie sofort anfangen, um bis zum 25. Dezember damit fertig zu sein”, sagte ein Fahrer “BBC Radio Four”.
Wut entlädt sich gegen die Polizei
Wie viele andere hat er einen eindeutigen Schuldigen für die Lage identifiziert. “Die französische Regierung ist Mist. Sie haben es allen ruiniert, und wozu?” Das unterstreicht auch eine französische Bäuerin, die sich auf dem Heimweg befunden hatte, gegenüber der “Daily Mail”: “Macron, verdammt, lass mich nach Hause kommen.”
In vielen Ecken entlud der Frust sich in Auseinandersetzungen mit der Polizei, die die Grenze sichert. Wie “Sky News” berichtet, hatten einige Fahrer in Kent angefangen, die Beamten auszupfeifen und auszubuhen. Eine kleine Gruppe hatte sogar versucht, sich gewaltsam an den Polizisten vorbeizudrängen, um zum Hafen zu gelanden. Ein Mann wurde festgenommen, als er aus Frust mit seinem Lastwagen die Hauptstraße in Kent blockierte.
Die Sikh-Gemeinschaft eilt zur Hilfe
Bei all den negativen Meldungen gibt es auch Lichtblicke. Ein Fahrer schenkte Wein in Pappbechern aus und verteilte ihn an andere. Eine Gruppe konnte bei einem improvisierten Weihnachtsfest beobachtet werden - mit Dosenbier und einem kleinen, mit Coladosen geschmückten Baum.
800 Hot meals ready for the truckers stranded in #Kent due to #OperationStack !
Our thx to the #Kent Sikh community especially Guru Nanak Gurdwara Gravesend. for preparing meals on short notice #BordersClosed @Port_of_Dover pic.twitter.com/65WOnh1NG9— Khalsa Aid (@Khalsa_Aid) December 22, 2020
Von diversen Hilfsaktionen mit Pizza oder Getränken ist zu hören. Besonders fleißig war die lokale Sikh-Gemeinde - eine religiöse Gemeinschaft, die ihren Ursprung in Indien hat und auch in Großbritannien viele Anhänger hat. Die Sikhs taten sich zusammen, um hunderte Pasta- und Curry-Mahlzeiten für die gestrandeten Lastwagenfahrer zuzubereiten - und das innerhalb weniger Stunden, wie ein Mitglied der Gemeinde dem Sender ITV erzählte.
The Sikh community in #Gravesend has come together to make fresh hot food for lorry drivers stuck on the #M20.
More than 1,450 lorries remain stuck in #Kent unable to leave Britain due to a travel ban imposed by France. Keep it up @Khalsa_Aid 💕pic.twitter.com/Zl84usxbXB— Harjinder Singh Kukreja (@SinghLions) December 22, 2020
Ein Team von Freiwilligen stünde während des Corona-Lockdowns ohnehin zum Kochen bereit, wie er erklärte, weshalb die Organisation der Mahlzeiten so schnell ging. “Anderen zu helfen ist einer der wichtigsten Aspekte des Sikh-Glaubens, also wollen wir unseren Teil dazu beitragen, den gestrandeten Lastwagenfahrern zu helfen. Wir haben jede Menge Vorräte und teilen diese gerne mit anderen.”
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