Margaret Atwood im Interview: „Perfekt gibt es nicht“
Ein Gespräch mit Margaret Atwood über Anfänge, Abschiede und die Geschenke, die sie von ihren Fans behält
Als das Interview mit Margaret Atwood beginnt, ist sie schon lang an der Arbeit. Sie hat den Vormittag damit verbracht, einen Gedichtband einzusprechen, der im Herbst auf Englisch erscheint. Wir sind verabredet, um uns über die neue Kurzgeschichtensammlung „Hier kommen wir nicht lebend raus“zu unterhalten. Seit mehr als 60 Jahren schreibt die 84-jährige Kanadierin fast ununterbrochen, darunter Welterfolge wie „Der Report der Magd“, und könnte ganze Räume mit den Preisen füllen, die sie dafür erhalten hat. Zum Gespräch sitzt eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart gänzlich allürenfrei im Arbeitszimmer ihres Hauses in Toronto, in geblümter Bluse und mit einem Heiligenschein grauer Löckchen, umgeben von Bildern und Büchern. Sie ist wie sie schreibt: Klarsichtig, scharfsinnig, gewitzt.
HARPER’S BAZAAR: Unser Gespräch findet anlässlich der Icons-Ausgabe von Harper's Bazaar statt. In Ihrem Essayband „Brennende Fragen“, der 2023 erschien, schreiben Sie: „Ich bin, wie sie zweifellos gehört haben, eine Ikone, und als solche ist man so gut wie tot und muss nichts weiter tun, als mucksmäuschenstill in Parks herumzustehen und sich bronzebraun zu verfärben, während Tauben und andere sich auf den Schultern der Ikone niederlassen und ihr auf den Kopf machen.“
Margaret Atwood: Stimmt.
Demnach ist es nicht reizvoll, eine Ikone zu sein.
Wenn Menschen von Ikonen sprechen, denken sie nur an eine positive Bedeutung. Das Problem daran, für eine gehalten zu werden, ist jedoch: Die Menschen erwarten, dass man sich die ganze Zeit zu benehmen weiß.
Ich hätte erwartet, dass man, wenn man so hoch angesehen ist wie Sie, alle Freiheiten hat.
Ja, ich komme mit Dingen durch, mit denen andere nicht durchkämen. Aber nicht, weil ich eine Ikone bin, sondern weil ich keinen Job habe und mich damit auch niemand feuern kann. Wenn ich etwas zu sagen habe, gibt es keine negativen Konsequenzen. Abgesehen von den Morddrohungen.
Bekommen Sie die denn oft?
Meist nur, wenn ich etwas tue, das für mediales Interesse sorgt.
Wie gehen Sie damit um?
Ach, die Drohungen kommen und gehen. Ich bin kein Politiker. Ich lebe in Kanada. Da geht es gemäßigter zu als etwa in den Vereinigten Staaten.
Ich komme mit Dingen durch, mit denen andere nicht durchkämen.
Margaret Atwood
Sie erfahren allerdings auch viel Zuneigung. Auf Ihrem Instagram-Kanal teilen Sie gelegentlich die Geschenke, die Sie erhalten. Zum Beispiel Margaret Atwood als Piñata. Oder Margaret Atwood als Strickpuppe, die in ihrem eigenen Buch „Oryx und Crake“ liest.
Die Puppe war gut! Es gab auch eine Kuchen-Ära. Nachdem ich „Die eßbare Frau“geschrieben hatte, backten die Leute Kuchen in weiblicher Form. Die bekam ich dann nicht, aber Fotos davon wie die Leute sie aßen. Zu „alias Grace“ gab es einige schöne Quilts, wie der, den ich im letzten Kapitel des Buches beschreibe. Die eigneten sich gut für Wohltätigkeitsversteigerungen.
Behalten Sie auch Geschenke?
Natürlich, natürlich. Ich habe eine hübsche kleine Stickerei mit Blümchen, auf der „F*ck Aunt Lydia“ steht [die Antagonistin in „Der Report der Magd“]. Oder einen gestrickten Hasen, der ein Outfit wie aus „Der Report der Magd“trägt.
Das rote Cape und die weiße Haube?
Warten Sie, ich hole ihn. [Sie verschwindet für ein paar Minuten und kommt mit einem Hasen zurück, der in der Tat die Kluft der geknechteten Mägde trägt]. Falls einem dieses Kostüm nicht gefällt, gibt es ein Outfit zum Wechseln: Eine Latzhose mit zwei Taschen, in denen jeweils ein kleiner Hase hockt.
Was will man Ihnen damit sagen?
Zunächst, dass die Leute offenbar denken, ich sei jemand, dem man so etwas schicken kann. Ich nehme es als Kompliment. Wäre ich Marcel Proust, würden sie es wohl nicht tun.
Eines ihrer bemerkenswerten Fan-Geschenke: ein gestrickter Hasen in einem Outfit wie aus „Der Report der Magd“
Vielleicht liegt es daran, dass auch in Ihren Dystopien ein Humor zu lesen ist.
Oder sie denken, dass ich Kunsthandwerk schätze. Ich war selbst mal eine große Strickerin. Poster habe ich auch entworfen. Im Consumers’ Gas Miss Homemakers Contest kam ich 1956 mit meiner Partnerin auf den zweiten Platz. Die Lehrerin wünschte sich, dass wir Kuscheltiere für kranke Kinder nähen. Aber ich wusste: Kuscheltiere haben runde Nähte – und die machen keinen Spaß. Wir durften über das Projekt abstimmen, also wagte ich den Systemumsturz: Ich überzeugte einen Teil der Klasse, dass wir stattdessen eine Oper über Hauswirtschaftslehre aufführen.
Hätte es Ihre Laufbahn entscheidend verändert, wenn Sie damit gewonnen hätten?
Nein.
1956 waren Sie 16 Jahre alt. Wussten Sie, was Sie werden wollten?
Ja, mit 16 war ich mir ganz sicher.
Wann entdeckten Sie Ihre Begabung?
So funktioniert das nicht. Man sagt nicht: Ich denke, ich habe eine Begabung. Man beschließt: Das ist es, was ich machen werde. Gott weiß, wenn ich mir anschaue, was ich damals geschrieben habe, besaß ich mit 16 nicht viel Talent. Niemand tut das. Man hat eine gewisse Tüchtigkeit und ein Interesse daran, Wörter auf ein Blatt Papier zu bringen. Keine schlechte Regel fürs Leben: Folge deinem Interesse.
Man sagt nicht: Ich denke, ich habe eine Begabung. Man beschließt: Das ist es, was ich machen werde.
Margaret Atwood
Was waren das für Geschichten?
Horrorgeschichten à la Edgar Allen Poe. Wie sie wohl viele Teenager schreiben. Da ich so eine Ikone bin, wurde mal ein Dokumentarfilm über mich gedreht. Ist schon eine Weile her. Meine Englischlehrerin Miss Florence Smedley lebte noch und wurde interviewt: „Als sie in meiner Klasse war, zeigte Margaret keine besondere Begabung.“ Das war recht ehrlich von ihr. Die meisten Menschen hätten gelogen und so etwas gesagt wie: Ich erkannte sofort, dass sie vor Genie nur so sprühte.
Sie lesen also Ihre frühen Texte?
Derzeit muss ich das, denn ich schreibe ein literarisches Memoir.
Es heißt, Sie hätten lange gezögert, Ihre Memoiren überhaupt zu schreiben.
Darüber sprechen wir, wenn sie erscheinen.
Sie schreiben seit mehr als 60 Jahren Romane, Gedichte, Essays, Kurzgeschichten und andere Texte, dazu einen Substack-Newsletter. Mit einem Output von rund einem Buch pro Jahr. Wie schaffen Sie das?
Einige der Bücher sind sehr kurz!
Ich rate, was zudem nützt: Sie sind keine Perfektionistin.
Wie kommen Sie nur darauf?
Es erleichtert das Schreiben.
Perfekt gibt es nicht. Deshalb flochten persische Weber in ihren Teppichen immer einen Makel ein, um uns daran zu erinnern. Es gibt nur schlechter und besser. Das ist meine Ausrede, warum ich keine Perfektionistin bin.
Das Überleben spielt in Ihrem Werk eine große Rolle. In „Hier kommen wir nicht lebend raus“geht es viel um Abschiede. Das ist schräg und absurd, wie in der Geschichte von einer Schnecke auf Seelenwanderung oder der, in der George Orwell aus dem Jenseits spricht, aber auch sehr nachdenklich. Den Hauptteil bilden zwei Story-Sequenzen über das Paar Nell und Tig, die rückblickend von ihrer Liebe erzählen. Ihr Mann Graeme Gibson, mit dem Sie fast 50 Jahre liiert waren, starb 2019. Fiel es Ihnen schwer, über Trauer zu schreiben?
Mir fällt es nicht schwer, zu schreiben. Wenn Sie mich aber fragen, ob es mich bestürzt: Natürlich tut es das. Allein bin ich damit nicht. Anfang 2019 waren [die Schriftstellerinnen] Valerie Martin, Joyce Carol Oates und ich mit unseren Ehemännern und Partnern auf einem Literaturfestival in Key West, Florida. Alles schien in Ordnung. Innerhalb von anderthalb Jahren waren alle Männer tot, mit mehr oder weniger Vorwarnung. Plötzlich waren wir ein Witwenclub.
Hilft es, mit den Anderen darüber zu reden?
Ich bin mir nicht sicher, ob „helfen“ hier das Schlüsselwort ist. Wir tauschen uns aus Notwendigkeit aus. Wissen Sie, die Menschen schenken mir nicht nur Strickpuppen, in letzter Zeit fragen sie mich: Wie kommt man darüber hinweg?
Was sagen Sie ihnen?
Man kommt nicht darüber weg. Man lebt damit. Etwas anderes bleibt einem ja nicht übrig. Wenn so ein Verlust jemand viel Jüngerem widerfährt, wäre es ganz natürlich, nach einer Weile einen neuen Partner zu treffen und mit dem Leben weiterzumachen. Aber offen gestanden wird das in meinem Alter nicht passieren. Ich habe viele Freunde. Ich brauche diese Lebenserfahrung nicht noch einmal. Liebesbeziehungen sind Projekte. Man muss viel Arbeit in sie stecken.
Eine der entscheidenden Fragen in „Hier kommen wir nicht lebend raus“ ist: Wäre es besser zu wissen, wie alles ausgeht?
Nein, wäre es nicht. Ich erzähle Ihnen eine Geschichte aus Deutschland. Vor einigen Jahren fragte mich ein junger Konzeptkünstler für ein Projekt an, bei dem er Schriftsteller auf einem Friedhof ihrer Wahl mit einer Polaroidkamera knipste, und sie dann zur Sterblichkeit interviewte. Er sagte etwas, das ich interessant fand. Die Schriftsteller unter 30 sagten zu. Sie hatten eine romantische Vorstellung vom Ende. Die jenseits der 55 auch. Die spüren, was kommt. Die dazwischen wollten es nicht machen.
Mit 45 kann ich mir vorstellen warum.
Lassen Sie hören.
Es ist eine Phase im Leben, in der man sich gleichzeitig um den noch jungen Nachwuchs und um die alternden Eltern sorgt. Man wird zu sehr gebraucht, um den eigenen Tod in Betracht zu ziehen.
Richtig. Man kann es sich nicht leisten, zu gehen. All diese Menschen sind auf dich angewiesen.
Wie sehen Sie den Tod mit 84?
Ach ja, der Tod [zuckt mit den Achseln]. Um mich herum fallen die Gleichaltrigen reihenweise um. Ich kenne alle Geheimnisse der alten Schachteln. Treffen mit meinen Freundinnen sind „organ recitals“ [direkt übersetzt Orgelkonzerte, aber als Wortspiel zu verstehen, denn „organ“ bedeutet nicht nur Orgel, sondern auch Organ]. Wie geht’s deinem Pacemaker? Was macht die künstliche Hüfte? Wir lachen ziemlich viel darüber, warum auch nicht. Es ist wahr, dass Geschichte beim ersten Mal wie eine Tragödie wirkt und beim zweiten Mal wie eine Farce. Wer hat das nochmal gesagt?
Nach einer Pacemaker-OP im letzten Jahr nimmt Margaret Atwood den Herzschrittmacher wörtlich und wagt im Krankenhaus ein Tänzchen
Das schauen wir nach. [Das Zitat wird Friedrich Engels zugeschrieben]. Man sagt über Sie, dass Sie die Geschichte vorhersehen können. Sie haben weit vorher über den Finanzcrash geschrieben, über den Klimawandel, die Bedrohung von Frauenrechten. Ist es lästig, für prophetisch gehalten zu werden?
Ich treffe ja keine Vorhersagen. Ich beobachte, was in der Gegenwart passiert. Und ich beobachte Muster. Das macht mich nicht zur Prophetin, sondern zur Schriftstellerin. Künstlern stehen die gleichen Informationen zur Verfügung wie anderen auch, aber sie erkennen Muster besser, denn was ist Kunst? Ein wiederkehrendes Thema mit Variationen. Und Variationen beinhalten Mustererkennung. Glauben Sie mir, wäre ich wirklich Prophetin, würde ich an der Börse spekulieren.
Was sagt Ihnen die Erfahrung über das heute?
Die Dinge bewegen sich wie ein Pendel, mal geht es nach links, dann wieder nach rechts. Wo man sein möchte, ist in der Mitte, aber das ist manchmal schwer zu arrangieren. In meinem Alter erinnerst du dich an vieles, woran jüngere Menschen keine Erinnerung haben. Als Trump 2016 gewählt wurde, war ich in den Staaten. Die Jungen heulten: Das ist das Schlimmste, was je passiert ist! Da musste ich ihnen sagen: Nein, das ist es nicht. Es sind schon viel schlimmere Dinge passiert. Sie haben sie nur nicht selbst erlebt.
Sie kamen 1939 zur Welt.
Das Aufwachsen in dieser Zeit weckte mein Interesse für totalitäre Systeme. Ich schreibe gerade über die Französische Revolution und lese viel darüber. Es war die erste Revolution, in der man versuchte, herauszufinden, wie Demokratie funktionieren könnte. Das ging recht schnell den Bach runter. Warum? Welche Kräfte waren am Werk? Worauf sollten wir jetzt achten? Das interessiert mich.
Glauben Sie mir, wäre ich wirklich Prophetin, würde ich an der Börse spekulieren.
Margaret Atwood
Zu welchem Schluss kommen Sie?
Soziale Ungleichheit befeuert die Ereignisse. Hunger macht wütend. Ich würde also versuchen, das zu verhindern. Auch hier wieder: Muster. Wenn eine Regierung die Finanzen eines Landes nicht kompetent verwaltet und die Menschen deshalb in Not geraten, werden Regierungen am ehesten gestürzt. „Diese Leute können nichts, holen wir andere Leute.“
Wie erklären Sie, dass auch diejenigen wiedergewählt werden, die es bewiesenermaßen nicht besser machen?
Es ist das Festhalten an einer unwirklichen Hoffnung, nicht? Das ist die Macht der Demagogen: Sie werden dir immer weismachen wollen, dass etwas zerrüttet ist. Und wenn die Alternative, die sie vorschlagen, viel schlimmer ist, werden sie dir trotzdem sagen, jetzt ist es doch schon kaputt. Die Leute sollten sich anschauen, was diese Möchtegern-Diktatoren vorschlagen und ob sie tatsächlich an so einem Ort leben möchten. Denn gewöhnlich machen diese Typen genau das, was sie sagen.
Bei aller Düsterkeit dieser Zeit wirken Sie wie ein optimistischer Mensch.
Ein Ausbund an Gelassenheit! Das macht die Leute verrückt. Sie wollen wissen, warum ich nicht depressiver bin?
Ich würde gerne wissen, was Sie wirklich hoffnungsvoll macht.
Wenn es überhaupt etwas gibt, dann ist es das: Nichts im Leben ist eine ausgemachte Sache.