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ME/CFS: Wenn die Erschöpfung das Leben bestimmt

ME/CFS schränkt das Leben von Betroffenen stark ein (Symbolbild: Getty Images)
ME/CFS schränkt das Leben von Betroffenen stark ein (Symbolbild: Getty Images)

Wenn man sich von einer Erkrankung nie wieder erholt: In der Corona-Pandemie wurde das Long-Covid-Syndrom bekannt, doch ein zumindest ähnliches Krankheitsbild beschäftigt einige wenige Ärzt:innen und Forscher:innen schon seit Jahrzehnten: Myalgische Enzephalomyelitis, auch bekannt als Chronic Fatigue Syndrome (chronisches Erschöpfungssyndrom), kurz: ME/CFS.

Erstmals beschrieben wurde ME/CFS Mitte der 1950er, seit 1969 wird es von der WHO als neurologische Krankheit gelistet. Doch obwohl es relativ häufig auftritt, ist das Syndrom bis heute kaum erforscht. Die genauen Ursachen sind nach wie vor unbekannt, eine Diagnose kann nur im Ausschlussverfahren gestellt werden. Als möglicher Auslöser gilt eine Autoimmunreaktion in Folge einer Virenerkrankung. Da nur wenige Ärzt:innen ME/CFS kennen, wird es oft erst spät entdeckt und es ist davon auszugehen, dass die Krankheit deshalb häufig unerkannt bleibt.

Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS sind in Deutschland etwa 250.000 Menschen erkrankt, darunter 40.000 Jugendliche. Eine von ihnen ist die 17-jährige Pauline, die mehr Aufmerksamkeit für die Krankheit wecken will und auch auf ihrem Instagram-Kanal darüber schreibt. Wie viele Betroffene hat sie erst nach einer Odyssee durch Arztpraxen ihre Diagnose bekommen. Alles begann im Oktober 2018 mit einer vermeintlichen Grippe, berichtet Pauline im Interview mit Yahoo. Im Nachhinein werde vermutet, dass es sich tatsächlich um Pfeiffersches Drüsenfieber gehandelt habe, das als einer der mutmaßlichen Auslöser von ME/CFS gilt.

Eineinhalb Jahre bis zur Diagnose

Danach hatte sie sich nicht mehr über längere Zeit erholt: “Ich war immer vier Wochen gesund und dann hat es mich wieder zerlegt”, schildert Pauline. “Dann war ich wieder eine Woche krank, und das hat sich dann immer gesteigert.” Im Winter konnte sie teils keine zwei Wochen lang die Schule besuchen, bevor sie wieder mit Fieber und Gliederschmerzen im Bett lag. Mit dem Verdacht auf Rheuma begann der Ärzte-Marathon, der eher zufällig im Frühjahr letzten Jahres bei einer Ärztin in München endete, die Pauline an die Kinderklinik Schwabing überwies - deutschlandweit eine von zwei Kliniken mit Spezialisierung auf ME/CFS. Im Mai 2020 bekam Pauline die Diagnose, eineinhalb Jahre nach Ausbruch der Krankheit.

Für ME/CFS ist eine Reihe von Symptomen typisch, allen voran natürlich die chronische Fatigue, die Betroffene schon nach einer geringen Belastung, etwa bei den alltäglichen Verrichtungen, überwältigen kann. Als Folgen dieser Post-Exertional Malaise nennt die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS ausgeprägte Schwäche, Muskelschmerzen und grippale Symptome. Daneben leiden Erkrankte häufig an Symptomen des autonomen Nervensystems wie Herzrasen, Benommenheit und Blutdruckschwankungen sowie immunologischen Symptome wie geschwollenen Lymphknoten, Halsschmerzen und einer höheren Infektanfälligkeit. Häufig treten auch Schmerzen, Schlafstörungen und neurologische Symptome wie Konzentrationsschwierigkeiten auf.

Auch Pauline ist auch in guten Zeiten “immer müde”, bei körperlicher oder psychischer Anstrengung verstärkt sich die chronische Erschöpfung schnell. Sie hat dann oft Fieber und Gliederschmerzen und wird lichtempfindlich: Künstliches Licht sei dann noch erträglich aber “Sonne ist eine Vollkatastrophe und ich lieg dann im Zimmer mit Rolladen unten.” Im Freien muss sie eine Sonnenbrille tragen. Paulines Alltag ist darum sehr eingeschränkt, so kann sie etwa keine längeren Strecken laufen - derzeit wartet sie auf einen Rollstuhl, der etwas mehr Bewegungsfreiheit ermöglichen wird. Immerhin habe sie im Moment eine “supergute” Phase und kann daher nach langer Zeit ihr Hobby wieder aufleben lassen und einmal in der Woche für eine Stunde Reiten gehen.

Der sparsame Umgang mit den "Murmeln"

Eine einheitliche Therapie gibt es bisher nicht, Ärzte:innen, die sich mit ME/CFS beschäftigen, können Empfehlungen aus ihrer Praxis geben, doch letztlich muss jede:r Patient:in sich individuell mit der Krankheit arrangieren. Eine grundlegende Methode ist das “Pacing”, mit dem Betroffene ihren täglichen Kraftaufwand genau planen und Reserven aufbauen.

Pauline spricht von der “Murmeltechnik”: “Du musst dir das so vorstellen, sagen wir ein gesunder Mensch hat 100 Murmeln. Und für jede Kleinigkeit, die du machst, Essen, auf Toilette gehen, so Dinge, die man im Alltag wahrscheinlich gar nicht bemerkt, gibst du eine Murmel ab, weil das ja Energie kostet. Und wir CFS-Leute haben nur 10 bis 20 Murmeln. Wir müssen unseren Tag so strukturieren, dass wir die Murmeln, die wir haben, nicht komplett aufbrauchen. Wenn uns jetzt 12 Murmeln übrig bleiben, haben wir am nächsten Tag zwei Murmeln mehr. Und das kann man immer wieder steigern.”

Wenn für Pauline die Erschöpfung zu groß wird, hilft nur Ruhe im abgedunkelten Zimmer, dann schläft sie auch mal 14 Stunden am Stück. Mit ihren Freunden halte sie dann per WhatsApp Kontakt, “einfach was so passiert, weil ich krieg davon nicht mehr so viel mit”. Wenn die Konzentration ausreicht, spielt sie mit ihrem Vater Gesellschaftsspiele. Generell wird ME/CFS-Kranken zu psychologischer Betreuung geraten, “einfach um Sachen zu besprechen, die wir nicht mit unserer Familie oder Freunden besprechen wollen”, wie Pauline sagt. “Das hilft mir schon sehr, einfach mit einer außenstehenden Person zu reden.”

Es gibt noch viel zu tun

In schweren Fällen können ME/CFS-Kranke ihr Haus nicht mehr verlassen, der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS zufolge ist dies bei etwa einem Viertel der Fall. Viele von ihnen sind bettlägerig. Über 60 Prozent der Betroffenen sind arbeitsunfähig, der volkswirtschaftliche Schaden in Deutschland könnte Schätzungen zufolge bis zu 7,4 Milliarden Euro betragen.

Paulines Zukunftsplanung steht in dieser Hinsicht aktuell still, die Schule kann sie nicht mehr besuchen. Im Winter hatte sie zwischenzeitlich Privatunterricht per Zoom, doch auch das ist ihr zurzeit nicht möglich. “Ich habe keinen Abschluss, keine Ausbildung, gar nichts”, erklärt sie. “Ich schaue, wann es besser wird.” Sie probiert nun, ob ein Nebenjob möglich ist, zudem hat sie einen Behindertenausweis beantragt, mit dem sie sich auf eine Ausbildung halbtags bewerben kann. “Wenn es ganz blöd kommt, muss ich irgendwann Frührente beantragen”, sagt Pauline.

Aus Sicht der Betroffenen bleiben der niedrige Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit und die Vernachlässigung in der Fachwelt das Hauptproblem bei ME/CFS. Weltweit sind die Forschungsbudgets deutlich niedriger als bei anderen chronischen Krankheiten. In Deutschland ist neben der Kinderklinik Schwabing nur die Berliner Charité auf ME/CFS spezialisiert, seit kurzem hat auch die Kinder-Rheumaklinik Garmisch-Partenkirchen eine CFS-Abteilung. Sämtliche Angebote sind dabei auf Kinder und Jugendliche zugeschnitten, ein weiterer Punkt in dem dringend Abhilfe gesorgt werden muss. “Wenn das erwachsene Leute zum Beispiel mit 40 oder 50 bekommen, haben die keinen Ansprechpartner und gar keinen Anhaltspunkt für Hilfe, was echt schlimm ist”, sagt Pauline.

Für Aufmerksamkeit soll etwa der Internationale ME/CFS-Tag sorgen, der am 12. Mai begangen wird - dem Geburtstag von Florence Nightingale, die über 50 Jahre mit Symptomen bettlägerig war, die heute von vielen als ME/CFS interpretiert werden. Die Online-Kampagne "#MillionsMissing" soll auf die mutmaßlich riesige Dunkelziffer aufmerksam machen. Indes hoffen viele Betroffene, dass sich in der Forschung nun auch aufgrund des Long-Covid-Syndroms endlich mehr tut. Pauline etwa ist sich sicher, dass es dabei ohnehin keinen Unterschied gibt: “Das ist eigentlich CFS”.

Video: Long-Covid - "Ich bin um dreißig Jahre gealtert"