Werbung

Warum wir pandemiemüde werden, aber wach bleiben sollten

Heidelberg/Ulm (dpa/tmn) - Selten war die Lage der Corona-Pandemie für den einzelnen schwerer zu fassen.

Auf der einen Seite sind da die immens hohen Infektionszahlen und die Warnungen, dass wichtige kritische Infrastruktur vor der Überlastung steht oder stehen könnte - Krankenhäuser, aber etwa auch Feuerwehr, Wasserversorger oder Verkehrsunternehmen.

Auf der anderen Seite ist oft davon zu lesen, dass Omikron sich zwar sehr schnell verbreitet, aber auch viel häufiger mild verläuft. Zudem machen Fachleute zarte Hoffnungen auf ein absehbares Pandemieende.

Und als wäre es in dieser Gegensätzlichkeit - Omikron-Welle, Warnungen, milde Verläufe, Pandemie vielleicht bald vorbei - nicht schon schwer genug für den Einzelnen, alles für sich einzuordnen und daraus ein adäquates Verhalten abzuleiten. Hinzu kommen noch die sich immer wieder ändernden Regeln: 2G, 3G, wie lang ist die Quarantäne, gelte ich noch als genesen? Die Liste ließe sich verlängern.

Virologe sieht Müdigkeit auf zwei Ebenen

Den Durchblick zu behalten, fällt schwer. Und es macht viele müde, nach zwei Jahren Pandemie. Das beobachtet auch der Virologe Ralf Bartenschlager: «Diese Müdigkeit besteht auf zwei Ebenen», sagt er. Das eine sei das stetige informiert bleiben über die Regeln. «Das andere ist der Wille, die Solidarität, um bei Maßnahmen und Vorgaben mitzumachen», sagt der Präsident der Gesellschaft für Virologie.

Nun ist es tatsächlich so, dass Omikron häufiger mild verläuft - gerade die Impfungen schützen gut vor schweren Verläufen, wie die Daten zeigen. Aber für eine Entwarnung ist es viel zu früh, mahnen Wissenschaft und Medizin. Dass im Vergleich weniger Menschen schwerer erkranken, wird durch die hohen Infektionszahlen aufgewogen. Es kann folglich dennoch zur Überlastung des Gesundheitssystems kommen.

Gerade ältere Menschen ohne Impfschutz - Schätzungen gehen bei der Gruppe der über 60-Jährigen noch von über drei Millionen aus - sind weiterhin gefährdet für schwere Verläufe. «Aktuell ballen sich die Infektionen bei den Jüngeren, aber die tragen es wieder zu den Älteren», sagt Virologe Bartenschlager. Dazu kommt: Das Risiko von Langzeitfolgen - Long Covid - auch bei milden Verläufen lässt sich für Omikron noch nicht beziffern.

Zusammengefasst bleibt es dabei: «Es gilt weiter, sich und andere zu schützen», sagt Bartenschlager.

Omikron-Wand, milder Verlauf - was Wörter auslösen

Die Lage, sie ist also noch immer alles andere als entspannt. Doch da ist ein diffuses Gefühl der Ungewissheit, das bei manchen in Gleichgültigkeit mündet. Dafür sorgen maßgeblich auch bestimmte Wörter, sagt die Psychologin Cornelia Herbert von der Universität Ulm. So wird oft von der Omikron-Wand gesprochen, statt von der Welle. Eine Wand kommt auf uns zu. Auf der anderen Seite liest man milde Verläufe und denkt: Wird schon nicht so schlimm sein.

«Das sind Botschaften, die lösen Emotionen aus», sagt Herbert. Auf der einen Seite verarbeiten wir: Alarmstufe Rot. Auf der anderen Seite: Mir passiert schon nichts. Das sorgt für Konflikte im Kopf, die man für sich auflösen muss. Das kann schwierig sein. Der Rat der Expertin: Man muss sich klar machen, was hinter den Wörtern steckt.

Der «milde Verlauf» etwa. Ein milder Verlauf kann eben auch drei Tage Fieber und Schüttelfrost bedeuten, sagt Ralf Bartenschlager. Und gerade bei Ungeimpften bestehe da noch das nicht genau zu beziffernde Long-Covid-Risiko, während etwa neue Studien aus Israel andeuteten, dass Zweifach-Geimpfte wahrscheinlich kein Long Covid mehr hätten. «Long Covid kann heißen, dass man vielleicht Monate dauerhaft müde ist, bei kleinster Anstrengung Schnappatmung bekommt, nicht mehr richtig konzentriert sein kann, Probleme mit dem Herzen bekommt.»

Zurücktreten und ihn Ruhe bewerten

Doch es ist nicht nur die grassierende Virusvariante Omikron, die uns eine klare Einschätzung schwer macht. Es sind auch die Regeln und Vorgaben, die sich oft ändern und je nach Bundesland auch noch unterschiedlich sein können. Wie behält man für sich den Überblick?

Wenn wir neue Nachrichten lesen, im Radio hören oder im Fernsehen sehen, bewerten wir sie automatisch: Betrifft es mich, ist dies eine Bedrohung für mich? Dabei sollte man «einen Schritt zurückgehen und objektivieren, was das genau für einen persönlich bedeutet und was man tun könnte, ohne vorschnell emotional zu reagieren», sagt Psychologin Herbert. «Das hilft, um den Überblick zu bewahren.»

Sie rät auch, sich zwei, drei verlässliche Informationsquellen zu suchen, an denen man sich orientiert. Permanent durch Facebook oder Twitter zu scrollen, trägt hingegen eher nicht zu einer gelassenen Informiertheit bei. Wer sich von allen Seiten, auch aus seinem persönlichen Umfeld, mit Info-Häppchen zuschütten lässt, verliert fast zwangsläufig die Orientierung.

Gut sei es auch, eine Vertrauensperson zu haben, die einen bei offenen Fragen aufklärt, sagt Herbert. Die Hausärztin oder der Hausarzt wären hier naheliegend.

Der Pandemie-Marathon zehrt an uns

Zwei Jahre dauert die Pandemie schon an. Anfangs gab es die diffuse Bedrohung dieses mysteriösen Virus, dann sahen wir die Bilder aus Bergamo, wo die Militärlaster die Särge abtransportieren mussten. «Das Bedrohliche hat geeint», sagt Psychologin Herbert.

Was damals auch einte: Die Hoffnung, nach einigen harten Monaten spätestens im Sommer die Pandemie hinter sich zu lassen. Wer weiß, wie die Akzeptanz für die Maßnahmen ausgefallen wäre, wenn damals schon klar gewesen wäre, was da für ein Marathon bevorsteht. Und er ist noch immer nicht vorbei.

«Auch wenn jemand das Thema nicht mehr hören und sehen will, möchte ich doch hoffen, dass wir uns zumindest noch in dieser Wintersaison soweit zusammenreißen, dass wir die Welle gut überstehen», sagt Virologe Bartenschlager. «Danach haben wir hoffentlich ein Niveau an Immunität in der Bevölkerung erreicht, das es uns erlaubt, langsam wieder in die Normalität zurück zu kehren und entspannter in den nächsten Winter blicken zu können.»