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Studie: Die wachsende Ungleichheit bei den Einkommen liegt daran, dass Geringverdiener weniger arbeiten dürfen als sie wollen

 - Copyright: Getty Images
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Der Unterschied zwischen den Einkommen hat in Deutschland seit den Neunziger Jahren deutlich zugenommen. Das Auseinanderklaffen zwischen oberen und unteren Einkommen wird von vielen Menschen als eines der dringendsten gesellschaftlichen Probleme in Deutschland angesehen. Doch was treibt die Erwerbseinkommen eigentlich auseinander?

Zwei Ökonomen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) haben diese Treiber untersucht – und Überraschendes herausgefunden: "Der Anstieg der Ungleichheit liegt fast gar nicht an den Stundenlöhnen, sondern vielmehr an der Entwicklung der Arbeitszeiten." Hier hat es gewaltige Veränderungen gegeben. "Beschäftigte mit geringen Löhnen arbeiten heute deutlich weniger als früher", schreiben die DIW-Forscher Carsten Schröder und Mattis Beckmannshagen.

Die Wende bei der Arbeitszeit

Bis zur Jahrtausendwende war es so, dass Beschäftigte in den unteren Lohngruppen die geringen Einkommen mit längeren Arbeitszeiten ausglichen. Seither hat sich das Verhältnis aber umgekehrt. Im Jahr 2018 waren niedrige Stundenlöhne mit weniger, höhere Löhne dagegen mit mehr Arbeitsstunden verbunden. Vor allem durch diese Entwicklung öffnete sich die Einkommensschere.

Der Wandel bei den Arbeitszeiten war der Studie zufolge eher erzwungen als freiwillig. Denn auf der Basis regelmäßiger Befragungen des DIW ermittelten die Autoren, dass die gewünschte und die tatsächliche Arbeitszeit auseinanderdriften. Beschäftigte in den unteren Lohngruppen würden gern länger arbeiten, als sie es tatsächlich tun. Je höher die Lohngruppen oder Gehaltsstufen, umso eher wollen Beschäftigte dagegen weniger arbeiten, als es sie tatsächlich tun.

„Hätten Beschäftigte so viel oder wenig arbeiten können, wie sie sollten, wäre die Ungleichheit der Erwerbseinkommen nur halb so stark gestiegen", errechnen die Forscher.

Angesichts des großen Mangels an Arbeitskräften in Deutschland liegt darin eine doppelte Chance. Würde es gelingen, die Menschen mit geringen Stundenlöhnen entsprechend ihrer Wünsche mehr arbeiten zu lassen, könnte dies gleichzeitig die Ungleichheit der Einkommen verringern und das Wachstum fördern. Voraussetzung dafür sei ein Umdenken in Unternehmen und in der Politik. Vor allem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und bessere Möglichkeiten, im Niedriglohnsektor die Arbeitszeit auszuweiten, spielten eine große Rolle.

Denn besonders groß ist die Lücke zwischen gewünschter und realer Arbeitszeit bei Müttern sowie Berufsanfängern und Wiedereinsteigern.

Wie aber kommen Beckmannshagen und Schröder zu ihren Ergebnissen? Das Erwerbseinkommen wird vor allem durch zwei Größen bestimmt: den Stundenlohn und die Arbeitszeit. Die Ungleichheit der Einkommen hängt also an der Verteilung der Stundenlöhne, an der Verteilung der Arbeitszeit und daran, wie sich die Arbeitszeit in den unterschiedlichen Lohngruppen verändert, also der Korrelation zwischen Stundenlohn und Arbeitszeit.

Die Lücke zwischen gewünschter und echter Arbeitszeit

Die Ergebnisse der Ungleichheit bei realen Stundenlöhnen und Arbeitszeiten glichen die Forscher dann mit den gewünschten Arbeitszeiten ab. Dabei stützen sie sich auf Daten des Sozioökonomischen Panels, einer regelmäßigen repräsentativen Befragung.

Zwischen 1993 und 2018 stieg die Ungleichheit der Erwerbseinkommen deutlich, am stärksten bis zum Jahr 2003, kaum noch seit 2008. Von diesem Anstieg seien nur 15 Prozent auf eine unterschiedliche Entwicklung der Stundenlöhne zurückzuführen, etwa 40 Prozent auf eine zunehmende Ungleichheit bei den Arbeitszeiten und 45 Prozent auf die oben erwähnte wachsende Korrelation zwischen Lohnhöhe und Arbeitszeit. „Beschäftigte mit hohen Stundenlöhnen sind zunehmend auch die mit den längsten Arbeitszeiten, was die Ungleichheit der Erwerbseinkommen vergrößert".

Parallel dazu veränderten sich die Unterschiede zwischen gewünschten und realisierten Arbeitszeiten in den Lohngruppen. "Betrachtet man alle Beschäftigten, lagen die gewünschten Arbeitsstunden im Durchschnitt sowohl 1993 als auch 2018 etwa zwei Stunden unter den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden." Alles in allem wollten und wollen die Beschäftigten also lieber weniger arbeiten als ihre Verträge vorsehen.

Unter dieser Oberfläche gibt es aber eine gewaltige Verschiebung. Im unteren 20 Prozent der Lohnpyramide wollten die Beschäftigten 1993 im Mittel vier Stunden weniger arbeiten als sie mussten. „2018 hat sich diese Differenz gedreht und die gewünschten Arbeitsstunden lagen leicht über den tatsächlichen“.

Im oberen Fünftel der Lohnpyramide das entgegengesetzte Bild: 1993 wollten diese "Besserverdienenden" im Mittel eine Stunde weniger arbeiten. 2018 waren es sogar drei Stunden.

Wie wirken Minijobs und Mindestlohn auf die Einkommen?

Auffallend: 1993 arbeiteten Beschäftigte in den unteren Lohngruppen im Mittel 42 Stunden, heute sind es nur 32. Ein wichtiger Grund dafür sind andere Regeln am Arbeitsmarkt. Verschiedene Formen der geringfügigen Beschäftigung erleichtern den Übergang in eine Beschäftigung, beschränken aber die Arbeitszeit zum Beispiel durch die Grenze von 450 Euro für sozialversicherungsfreie Jobs. Eine Rolle spielt auch der Mindestlohn.

"Während die Ungleichheit der Stundenlöhne in den letzten Jahren leicht gesunken ist – unter anderem durch die Einführung des Mindestlohns – schlägt sich die aufgrund von Arbeitszeitreduktionen nicht eins zu eins in der Verteilung der Bruttoerwerbseinkommen nieder", schreiben die Ökonomen. Gerade am unteren Ende gelinge es vielen Beschäftigten nicht, ihren Wunsch nach längeren Arbeitszeiten auch zu realisieren. "Verdienstgrenzen etwa bei Mini- und Midijobs bei gleichzeitig steigenden Löhnen – zum Beispiel durch die Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro – dürften dieses Problem verschärfen".

Die ausführliche Studie, Hinweise zur Methodik und den Autoren findet ihr hier.