Sind wir wirklich Weltmeister im Krankmelden? Die Karenztag-Debatte im Faktencheck
Allianz-Chef Oliver Bäte hat in einem "Handelsblatt"-Interview gefordert, die Lohnzahlung für den ersten Krankheitstag zu streichen. Seither melden sich in einer Debatte über Karenztage Parteifunktionäre, Arbeitgeber und Experten jeglicher politischer Couleur zu Wort. Wir haben die Fakten.
Allianz-Chef Oliver Bäte forderte kürzlich in einem "Handelsblat"-Interview, in Deutschland wieder Karenztage für kranke Beschäftigte einzuführen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen nach dem Vorschlag die Kosten für den ersten Krankheitstag selbst tragen und keine Lohnfortzahlung erhalten.
Für Bäte melden sich zu viele in Deutschland krank, die Kosten für Arbeitgeber und Krankenkassen seien enorm. Eine Karenztageregelung, so die Argumentation, würde nicht nur die Kosten senken, sondern auch für weniger Krankmeldungen sorgen. Mit dieser Forderung hat Bäte eine Debatte ausgelöst. Doch wie sehen eigentlich die Fakten aus?
Melden sich in Deutschland wirklich überdurchschnittlich viele Menschen krank? Gab es schon mal Karenztage in Deutschland? Wie sieht es in anderen europäischen Ländern aus?
Karenztage in Deutschland
Tatsächlich waren Karenztage im Krankheitsfall in Deutschland lange Zeit gang und gäbe. Bis 1970 hatten Angestellte einen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ab dem zweiten Tag der Erkrankung. Das änderte sich ab dem 1. Januar 1970, als das "Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle" in Kraft trat. Von da an erfolgte ab dem ersten Krankheitstag die Lohnfortzahlung für einen Zeitraum von sechs Wochen für Arbeiter und Angestellte. Seitdem sieht das deutsche Arbeitsrecht keine Karenztage mehr vor.
Zwar versuchte die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl 1996 noch einmal Karenztage einzuführen, um die Zahl der Krankmeldungen in Deutschland zu senken, doch die einzige Änderung, die im Bundestag abgesegnet wurde, war eine Absenkung der Lohnfortzahlung von 100 auf 80 Prozent. Das änderte sich bereits drei Jahre später wieder, als die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder mit dem "Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte" die Regelungen der Regierung Kohl wieder aufhob.
Karenztage in anderen EU-Ländern
Doch wie sieht es in anderen Ländern aus? Bekommen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überall in der EU eine Lohnfortzahlung ab dem ersten Krankheitstag? Nein! In den Mitgliedstaaten Spanien, Griechenland und Schweden gibt es Karenztage.
Resultiert die Erkrankung eines Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin in Spanien nicht aus einem Arbeitsunfall, so sind die ersten drei Krankheitstage komplett unbezahlt. Eine Lohnfortzahlung seitens des Arbeitgebers in Höhe von 60 Prozent der Berechnungsgrundlage erfolgt erst ab dem vierten Krankheitstag. Ab dem 21. Krankheitstag steigt diese auf 75 Prozent, der Arbeitgeber bekommt die Lohnfortzahlung dann erstattet.
Auch in Griechenland erhalten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen erst ab dem vierten Tag im Krankenstand eine Lohnfortzahlung. Diese wird für 30 Tage zur Hälfte vom Arbeitgeber und vom Sozialversicherungsträger IKA gezahlt. Nach 30 Tagen haben Beschäftigte Anspruch auf Krankengeld in Höhe von 100 Prozent des Nettogehalts für die Dauer eines Jahres.
In Schweden gibt es ebenfalls einen Karenztag für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Erst ab dem zweiten Krankheitstag erhalten sie für bis zu 14 Tage 75 Prozent ihres Bruttolohns. Danach springt die staatliche Sozialversicherung Försäkringskassan ein. In Schweden gibt es auch Teilzeit-Krankheitstage. Ärzte können je nach Diagnose die Arbeitsfähigkeit bei 25, 50 oder 75 Prozent einstufen. Dann arbeitet man beispielsweise nur vier statt acht Stunden pro Tag.
In den Niederlanden gibt es keine gesetzlich festgeschriebenen Karenztage. Das Arbeitsrecht sieht aber eine Möglichkeit von Karenztagen, etwa in Tarifverträgen, vor. Auch außerhalb der EU gibt es Karenztage, wie etwa in Großbritannien. Dort bekommen arbeitsunfähige Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen erst ab dem vierten Tag gesetzliche Krankengeld-Pauschalbeiträge.
Gibt es in Deutschland die meisten Krankmeldungen?
"Deutschland ist mittlerweile Weltmeister bei den Krankmeldungen", behauptete Allianz-Chef Bäte im Gespräch mit dem "Handelsblatt". Hierzulande gäbe es Bäte zufolge durchschnittlich 20 Krankheitstage pro Jahr und Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin. Wie er auf diese Zahl kommt, verrät der Allianz-Chef allerdings nicht.
Eine Gesamtzahl der Krankmeldungen in Deutschland zu erfassen, ist schwierig. Die Krankenkassen hierzulande veröffentlichen je ihre eigenen Statistiken auf Basis ihrer Versicherten. Eine Statistik der Krankenkasse DAK-Gesundheit ergab 20 durchschnittliche Krankheitstage 2023. Der Gesundheitsreport der Krankenkasse BKK weist für das Jahr 2023 einen Durchschnittswert von 22,4 Krankheitstagen auf. Laut Statistischem Bundesamt belief sich die Zahl der durchschnittlichen Krankheitstage 2023 auf 15,1 pro Jahr und Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin. Für 2024 liegen noch keine Angaben vor. Allerdings erfasst das Statistische Bundesamt in der Regel nur Krankschreibungen, die über einen Tag hinaus gehen.
Die Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) kommt auf ganz andere Zahlen, da sie für ihre Statistik nicht die tatsächlich eingereichten Krankmeldungen berücksichtigt, sondern eigene Erhebungen durchführt. Wie "tagesschau.de" berichtet, kommt die OECD für 2023 nur auf eine Krankheitszeit von 6,8 Prozent der Arbeitszeit, was in etwa dem Durchschnitt der Jahre vor Corona von 2015 bis 2019 entspricht. Laut der OECD-Statistik ist der Anteil der Krankheitszeit an der Arbeitszeit in Frankreich höher, in Schweden und Belgien etwa gleich, in Österreich und den Niederlanden etwas geringer.
Ob Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland wirklich Weltmeister bei Krankmeldungen sind, hängt also davon ab, welche Statistik und Erhebungsmethode man zurate zieht.
Anstieg aufgrund besserer Erfassungen von Krankmeldungen
Dennoch weisen viele Statistiken zu Krankmeldungen hierzulande einen deutlichen Anstieg bei der Zahl der Krankmeldungen in den letzten zwei Jahren auf. So ist die Zahl der Krankmeldungen alleine in der DAK-Statistik zwischen 2021 und 2022 um 40 Prozent gestiegen. Das Leibniz-Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim geht von einem statistischen Effekt aus. Zwar würden Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen seit Corona seltener mit einer Erkältung oder Atemwegserkrankungen zur Arbeit gehen, jedoch sei das nicht der Hauptgrund für den Anstieg der Zahl der Krankheitstage.
"Vielmehr hat sich die Art und Weise, wie AU-Tage erfasst werden, seit Januar 2022 deutlich verbessert. Der Großteil des Anstiegs ist auf die elektronische Erfassung der Krankmeldungen zurückzuführen", so Professor Dr. Nicolas Ziebarth, Leiter des ZEW-Forschungsbereichs Arbeitsmärkte und Sozialversicherungen. Deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fehlen also nicht zwingend öfter krankheitsbedingt, die Krankheitstage werden jetzt nur besser erfasst.