Nach 20 Jahren Ehe fordert mein Mann überraschend die Scheidung – so half mir Reisen in dieser schwierigen Zeit
„Ich bin zutiefst unglücklich. Ich möchte die Scheidung“, sprach er plötzlich und unverblümt, ohne Worte des Trosts. Nach fast 20 Jahren Ehe trennte sich mein Ehemann ohne viel Aufhebens mit diesen Worten von mir.
Jener Freitagabend im Januar war ansonsten unspektakulär verlaufen. Wir hatten den Tag zusammen verbracht, Besorgungen erledigt und beim Mittagessen eine Portion Pommes geteilt. Beim Abendessen in unserem Esszimmer fragte ich, ob es ihm gut gehe. Er war zwar in der vergangenen Zeit distanziert gewesen – aber den Wunsch nach einer Scheidung hatte ich nicht kommen sehen.
Am Tag nachdem er mich verlassen hatte, lag ich schluchzend auf der Couch meiner Freundin, die mir tröstend über den Rücken streichelte. „Wie soll dein nächstes Kapitel im Leben aussehen?“, fragte sie.
Zu diesem Zeitpunkt war ich völlig ohne Orientierung. Ich wusste nicht einmal, welche Art Musik ich gerne hörte, geschweige denn, wie ich ein Leben neu gestalten sollte, dessen Weg längst vorgeplant war. Jahrelang hatte ich einfach die Musik meiner Tochter oder meines Mannes mitgehört und mich selbst der Rollen der Ehefrau und Mutter verschrieben. Als wir uns scheiden ließen, verlor ich nicht nur meine Ehe, meinen Co-Elternteil, „meinen Menschen“. Ich lebte nun ohne den bisherigen Fahrplan für die Zukunft, die wir so sorgfältig gemeinsam geplant hatten.
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich also meiner Freundin auf ihre Frage. „Ich glaube, ich möchte reisen.“ Allerdings war ich noch nie alleine gereist und wusste nicht, ob ich mutig genug war, es als 50-jährige Single-Frau zu tun.
Der Zeitpunkt war eigentlich richtig
Trotz all der Überraschung kam die Scheidung zu einem günstigen Zeitpunkt: Ich hatte keinen Job, meine Tochter ging auf in ein Internat und ich wurde 50. Kurz darauf würde ich als Schuladministratorin in die Arbeitswelt zurückkehren und in meinem Job einen Anker finden.
Als Monate später Thanksgiving näher rückte, standen mir fünfeinhalb freie Tage zur Verfügung, da mein Noch-Mann unsere Tochter für die Feiertage hatte. Mit zitternden Händen buchte ich ein Flugticket. Ich wollte raus aus den USA, ein neues Land sehen. Meine Zielkriterien: Flugzeit unter acht Stunden, 700 US-Dollar (672 Euro) und ein Ziel, das ich noch nicht besucht hatte. Ich flog nach Belgien.
In Brüssel schlenderte ich durch kopfsteingepflasterte Straßen, geschmückt mit hängendem Grün und Weihnachtslichtern. Ich sah Arbeitenden dabei zu, wie sie einen riesigen Baum auf der Grand-Place errichteten. Ich probierte buttrige Schokolade aus den Manufakturen der Geschäften und salzige Pommes aus Buden, deren Fenster zur Straße hin geöffnet waren. Beim Tagesausflug nach Brügge spazierte ich entlang der charmanten Kanäle. Und während ich umherwanderte, legte sich ein Schleier der Zufriedenheit über den Schmerz dieses einsamen Feiertags.
Ein neues Jahr, ein neues Abenteuer
Am folgenden Thanksgiving – wieder alleine und in demselben Reisefieber wie im Jahr zuvor – brach ich nach Portugal auf. Während einer kulinarischen Tour probierte ich herzhaften Stockfisch mit Kartoffelpüree. Ich testete cremige, süße Pasteis de Nada-Törtchen. Und auch der Ginjinha, ein mit Zimt angereicherter Sauerkirschlikör, bekam mir wohl.
Mit dem Zug fuhr ich zum märchenhaften Pena-Palast in Sintra nahe der Hauptstadt Lissabon und nach Porto. Dort lernte ich, wie Portwein hergestellt wird. Zugfahrplänen zu studieren und das alleine zu Essen stärkten mich mental.
Reisen machte mich selbstbewusster
Im Laufe der Zeit entwickelte ich neuen Mut und reiste weiter in die Ferne, bis ich mich schließlich im nepalesischen Kathmandu in einem Schreibworkshop wiederfand. Dort, unter Girlanden aus Ringelblumen und Gebetsperlen, traf ich eine Gemeinschaft von Kreativen, in denen ich engen Freundinnen und Freunde fand. Als wir zu Füßen der heiligen Pilgerstätte Boudhanath Stupa meditierten, im Gleichschritt mit den tibetischen Buddhisten, fühlte ich zum ersten Mal seit der Trennung inneren Frieden.
In den sechs Jahren, seit mein Mann mich verlassen hat, habe ich 21 Länder bereist. Meine 50er Jahre sehen überhaupt nicht so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich habe in Thermalbädern in Budapest gebadet, bin den Mekong in Laos hinuntergeschwommen, im Heißluftballon über die unwirkliche Landschaft Kappadokiens geflogen und habe in Finnland Moltebeeren gesammelt. Ich habe meinen Platz in der Welt gefunden und Abenteuer gewählt, auf die mein Ex-Mann keine Lust hatte. Ich bin dankbar für meine Scheidung. Aus den Trümmern entstand ein erfüllteres Leben, als ich es mir je hätte träumen lassen.
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