800 Stellen in der Real-Zentrale gestrichen: Interne Rechnungen zeigen, wie hoch die Abfindungen der Mitarbeiter wirklich sind

Symbolbild eines Vertrages von real (Grafik: Business Insider).
Symbolbild eines Vertrages von real (Grafik: Business Insider).

“Wir haben viel zu lange geschwiegen." Dieser Satz erreicht uns per Mail. Der oder die Absenderin hat lange Jahre in der Zentrale des SB-Warenhaushändlers Real gearbeitet. Nun will der Mitarbeiter anonym bleiben, denn - das geht aus dem weiteren Verlauf des Mail-Verkehrs mit ihm hervor - er hat Angst. Angst, um das letzte Stückchen des Kuchens, das ihm vonseiten seines Arbeitgebers noch zusteht: die Abfindung.

Wie so viele Real-Mitarbeiter dachte der Mitarbeiter lange, das Kapitel Real sei für ihn endgültig vorbei. 2020 hatte der Finanzinvestor SCP die angeschlagene SB-Warenhauskette Real mit ihren rund 270 Märkten vom Handelskonzern Metro erworben, um sie zu zerschlagen und weiterzuverkaufen. Eigentlich stand schon vor einem Jahr fest: Spätestens im Sommer 2022 sollte es die Marke Real nicht mehr geben. Schnell hatten die Investoren klargemacht, dass sie das “Projekt Real” bis zu diesem Zeitpunkt beendet haben wollten. Nach und nach verkaufte der neue Eigentümer SCP einen Großteil der Märkte an Edeka, Kaufland und Globus, den Onlineshop an Kaufland und 43 Märkte wurden oder werden noch geschlossen. Business Insider hat die Zerschlagung von Real über Monate hinweg eng begleitet. Mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meldeten sich bei Business Insider mit einer Bitte um Hilfe, weil sie nicht wussten, was mit ihren Märkten geschehen wird.

Nach langem Bangen wurde zumindest in der Zentrale Klartext gesprochen: Den 800 Mitarbeitern in Düsseldorf wurde gesagt, dass es Real nicht mehr geben werde. In der Hauptverwaltung wurden bereits 2021 die ersten Kündigungen ausgestellt, wie Real auf Anfrage von Business Insider bestätigte. Die offizielle Begründung in den Kündigungsunterlagen: Betriebsschließung. 2021 verkündete Real, dass mit dem zuständigen Betriebsrat ein Sozialplan und Interessenausgleich verhandelt wurde.

Real wird weiterbetrieben

Dann Mitte Januar, die überraschende Nachricht: Es wurde ein Investor gefunden, der die Marke Real weiterführen will. Die SCP Retail Investments S.A. veräußert die Real GmbH mit rund 60 Standorten an das Family Office der Unternehmerfamilie Tischendorf sowie ein Team von Real-Managern um Karsten Pudzich. Unser anonymer Mitarbeiter war bestürzt und überrascht.

Real und Wladimir Petrowitsch Jewtuschenkow
Real und Wladimir Petrowitsch Jewtuschenkow

Denn die Transaktion wurde laut einer Unternehmensmitteilung im Dezember 2021 vertraglich vereinbart und soll zum 30. Juni 2022 wirksam werden. Im Dezember 2021 soll Real seinen Mitarbeitern der Hauptverwaltung jedoch noch weiterhin Kündigungen ausgehändigt haben. Und nun soll es doch mit 60 Märkten weitergehen - aber scheinbar nicht mit derselben Anzahl an Mitarbeitern.

Die bisherige Hauptverwaltung wird in ihrer bisherigen Betriebsform so auch nach wie vor geschlossen. Der gesamte Wareneinkauf, die Warenlogistik sowie einige andere Zentralfunktionen sollen künftig im Rahmen einer Kontor-Vereinbarung von einem “leistungsfähigen Partner übernommen” werden, heißt es in der Mitteilung. Wer dieser Partner sein soll, ist noch nicht bekannt. Nur noch rund 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden in der Servicegesellschaft der neuen Eigentümer die künftigen Aufgaben der Zentralverwaltung übernehmen, die zuvor 800 Real-Mitarbeiter erledigt hatten und die nun ihre Jobs verloren haben.

„Das Ganze hat einen bitteren Beigeschmack”, kritisiert das Ver.di-Vorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger. “Erst entscheidet das Management, dass die Real-Zentrale Mitte 2022 geschlossen wird und es werden 800 Beschäftigte entlassen. Dann wird kurzfristig Anfang 2022 ein neuer Eigentümer präsentiert. Von den bereits 800 Entlassenen werden jetzt rund 130 neu einstellt. Diese Vorgehensweise führt dazu, dass erst Menschen ihre Arbeit verlieren und sich dann erneut auf ihren 'alten Arbeitsplatz' bewerben müssen.”

Diese Abfindungen wurden den Mitarbeitern geboten, wenn sie freiwillig gehen

Bereits 2020 wurde immer deutlicher, dass die Zentrale nicht mehr in dem einstiegen Umfang benötigt wird. Nach einem Umzug waren in dem neuen Büro nur noch 400 Arbeitsplätze vorgesehen, was für die derzeit noch 800 Angestellten nicht reichen würde. Als Grund wurde die coronabedingte Home-Office-Situation angegeben. Hinzukommt: Je mehr Real-Filialen sukzessive abgegeben werden, desto weniger Arbeit gibt es für die Zentrale.

Bereits Ende 2020 hatte das Unternehmen daher versucht, vielen Beschäftigten ein freiwilliges Abfindungsprogramm anzubieten. Business Insider liegen nun Dokumente zu Beispielrechnungen über die Höhe der Abfindungen vor.

Abfindungsformel: Bruttomonatsentgelt x 0,5 x Betriebszugehörigkeit (vollendete Jahre)

Es wird jedoch eine Kappungsgrenze festgelegt, die davon abhängig ist, wie alt der oder die Beschäftigte bei Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis ist. In dem Dokument werden zwei Fälle aufgelistet: Ist der oder die Beschäftigte bei der Ausscheidung aus dem Unternehmen 49 Jahre alt, setzt die Kappungsgrenze bei insgesamt 12 Bruttomonatsentgelten ein, also einem Jahresgehalt.

Bei einem beispielhaften Monatsentgelt von 2500 Euro mal dem Faktor 0,5 mal 25 Jahren der Betriebszugehörigkeit käme diese Person also auf 31.250 Euro Abfindung. Da hier jedoch die Kappungsgrenze greift (2500 x 12 = 30.000 Euro), ist die Abfindung tatsächlich auf 30.000 Euro begrenzt.

Aus arbeitsrechtlicher Sicht eine gute oder schlechte Summe?

Der Abfindungsfaktor von 0,5 sei gängig und werde beim Arbeitsgericht auch als sogenannte Regelabfindung bei mittellangen Arbeitsverhältnissen genutzt, sagt der Fachanwalt für Arbeitsrecht, Pascal Croset zu Business Insider. Der Faktor 0,5 sei der “Inbegriff eines gängigen Kompromisses”, weder besonders niedrig, noch besonders hoch, so Croset. „Bei angeschlagenen Firmen habe ich auch schon niedrigere Summen gesehen, aber auch insgesamt schon höhere“, sagt er.

Jene Angestellten, die das Freiwilligenprogramm und die Abfindung nicht angenommen haben, sollen gekündigt worden sein. Wie Business Insider erfuhr, sollen jene Mitarbeiter, die noch einen Tarifvertrag hatten, in den Personalbereich gerufen worden sein, wo sie ihre Kündigung unterschreiben sollten. Auf Wunsch sollen sie in dem Zuge auch den Verzicht auf eine Kündigungsschutzklage unterschreiben gekonnt haben, wofür sie eine zusätzliche Prämie bekommen würden. Der genaue Betrag hierfür soll zur Unterzeichnung nicht zu 100 Prozent zugesichert worden sein und erst im Dezember 2021 bekannt gegeben.

Business Insider liegen auch Dokumente über die Berechnung dieser Prämie im Tausch gegen den Klageverzicht vor: Demnach erhielten Beschäftige Punkte für Faktoren wie Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten für Kinder, Familienstand und gegebenenfalls Behinderungsgrad. Pro Punkt wurde vorläufig ein Wert von hundert Euro brutto festgelegt. Aus der Anzahl der Punkte mal hundert Euro ergibt sich also die Summe der Klageverzichtsprämie.

Summe für zusätzliche Klageverzichtsprämie "sehr klein"

Jene Mitarbeiter, die in eine Tarifgruppe eingeordnet waren, erhielten zusätzlich eine weitere kleine Prämie bei Klageverzicht. Diese beläuft sich jedoch auf nur ein bisschen mehr als ein halbes Bruttomonatsentgeld.

„Diese zusätzliche Prämie für tarifgebundene Mitarbeiter ist sehr klein, hier hätten sich die Angestellten überlegen können, ob eine Kündigungsschutzklage womöglich eine größere Abfindung hätte heraushandeln können”, sagt Croset. Jedoch wäre dies dementsprechend auch mit hohen Anwalts- und Gerichtskosten für die Kläger verbunden und mit dem Risiko, noch weniger oder gar nichts zu erhalten, so der Arbeitsrechtler.

Mit der Unterschrift des Verzichts auf eine Kündigungsschutzklage geben die Mitarbeiter all ihre Ansprüche ab. „Mit der Zusatzprämie, die der Mitarbeiter durch den Klageverzicht erhält, erkauft sich der Arbeitgeber eine absolute Rechtssicherheit”, sagt Croset. In dem Falle können die Real-Angestellten also auch nach Bekanntwerden der Weiterführung von Real nur wenig ausrichten.

Wir haben bei Real nachgefragt. Unter anderem wollten wir wissen, ob das Kündigungsverfahren wirklich so ablief und ob bei dem Angebot der Abfindung der genaue Betrag noch nicht zu 100 Prozent zugesichert wurde, obwohl der Verzicht auf die Kündigungsschutzklage jedoch schon unterschrieben werden musste. Auch nach dem genauen Zeitraum, bei dem schon der neue Investor im Raum stand, fragten wir nach.

Auf unsere Mail hin antwortetet ein Real-Sprecher: "Es ist korrekt, dass die real Zentrale in Düsseldorf zum 30. Juni 2022 geschlossen werden wird. In diesem Zusammenhang haben alle dort beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine betriebsbedingte Kündigung erhalten." Und weiter: "Wie in solchen Fällen üblich, wurde mit den Arbeitnehmervertretern ein Interessenausgleich und Sozialplan verhandelt und abgeschlossen. Dabei sind mit den Arbeitnehmervertretern auch Abfindungsregelungen und Klageverzichtsprämien vereinbart worden." Man bitte jedoch um Verständnis, dass man keine Details aus dem Sozialplan gegenüber der Öffentlichkeit kommuniziere.

Der Sprecher verweist auf eine Pressemitteilung von Mai 2021, in dem die erfolgreiche Verhandlung des Sozialplanes gefeiert wird. "Der Sozialplan wurde den Beschäftigten am heutigen Vormittag im Rahmen einer digitalen Betriebsversammlung vorgestellt und gilt ab sofort. Die jeweilige Abfindungssumme steht in Abhängigkeit zum Lebensalter und berücksichtigt sowohl den bisherigen Verdienst wie auch die Dauer der Betriebszugehörigkeit." heißt es dort. "Dem Plan liegt eine faire Formel zugrunde, welche die Entschädigungen auf Basis von Verdienst und Betriebszugehörigkeit berechnet", wird der damalige Real-CEO und Arbeitsdirektor Bojan Luncer darin zitiert. Auch Andreas Stegemann, der Vorsitzende des Betriebsrats der Düsseldorfer Real Zentrale, kommt zu Wort. Er spricht von einem "bestmöglichen Ergebnis" für die Beschäftigten.

Ver.di kritisiert das Vorgehen bei Real

Die Gewerkschaft verdi sieht das anders. „Es wird nun offensichtlich, dass der Investor SCP, der Real seinerzeit von der Metro AG gekauft hatte, mit der Zerschlagung der Handelskette nur seinen Profit, nicht aber die Menschen im Blick hatte, die alles für ihren Konzern gegeben haben”, sagt Ver.di-Vorstandsmitglied Nutzenberger. Die Arbeitnehmervertreter von Ver.di haben gemeinsam mit den Betriebsräten lange für die Erhaltung möglichst vieler Arbeitsplätze gekämpft und haben einen engen Draht zu den Beschäftigten.

Nutzenberger sagt: “Die 800 Beschäftigten der Zentralverwaltung in Düsseldorf stehen mit der Schließung der Zentrale vor dem Nichts. Viele von ihnen ereilt nun Arbeitslosigkeit und finanzielle Not.“ Das trifft insbesondere ältere Arbeitnehmer, die lange im Betrieb waren und im höheren Alter nicht mehr so leicht einen anderen Job finden.

Dieser Artikel wurde zuletzt am 17. März 2022 aktualisiert. Er wurde am 16. März 2022 veröffentlicht.