Adipositas: Wie Vorurteile das Leben schwerer machen

Oberhausen (dpa/tmn) - Im Klamottenladen, im Fitnessstudio, immer wieder abwertende Blicke: Wer mit deutlich mehr Kilos als andere durchs Leben geht, hat oft nur einen einzigen Wunsch - dabei unsichtbar zu sein.

Wenn der sogenannte Body-Maß-Index (BMI) bei mindestens 30 liegt, ist von Adipositas die Rede. Diese ist seit 2020 in Deutschland als Krankheit anerkannt. Das starke Übergewicht erhöht unter anderem das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und belastet die Gelenke.

Und auch die Psyche leidet oft - etwa aufgrund von Vorurteilen, wie Kyriakoula Manaridou weiß. Sie ist Expertin in gleich zweierlei Hinsicht: Als Chefärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Ameos Klinikums St. Josef Oberhausen arbeitet sie mit Adipositas-Patientinnen und -Patienten. Außerdem hat sie ihre eigene Vorgeschichte mit dieser Erkrankung.

Im Interview erzählt sie, warum nicht fehlende Disziplin das Problem ist und was abfällige Blicke und Kommentare mit der Psyche von Betroffenen machen können. Dazu gibt sie Tipps, wie Freunde und Familie gut unterstützen.

Frage: Aus Ihrer Erfahrung: Was ist der hartnäckigste Mythos rund um Adipositas?

Kyriakoula Manaridou: Bei vielen Menschen fehlt das Verständnis, dass es sich um eine Erkrankung handelt - und nicht einfach bloß die Disziplin fehlt. Viele glauben eben, dass Adipositas letztlich selbst verschuldet ist. Typisch sind da Aussagen wie «Iss einfach weniger, dann wird das schon.»

Aber so einfach ist es nicht. Zum Beispiel können auch Medikamente für eine extreme Gewichtszunahme sorgen, etwa bei Kortisonbehandlungen oder durch Psychopharmaka. Und Krankheiten wie Diabetes gehen häufig Hand in Hand mit Adipositas. Oder psychische Erkrankungen wie Depressionen können zur Gewichtszunahme führen.

Und: Ein gestörtes Essverhalten hat immer irgendwo seinen Ursprung, etwa weil in der Kindheit und Jugend kein gutes Fundament gelegt wurde. Auch die finanziellen Mittel spielen eine Rolle: Eine ausgewogene Ernährung mit viel Gemüse und Obst kann sich nicht jeder leisten, Kohlenhydrate sind hingegen günstig.

Dazu kommt: Belohnungen gehen in unserer Gesellschaft ja häufig über ungesunde Lebensmittel, nach dem Motto: «Ich habe etwas Tolles geschafft, jetzt gönne ich mir etwas.»

Frage: Was sind typische Situationen, die adipöse Menschen in ihrem Alltag erleben?

Manaridou: Ich bin ja selbst mal in diesen Schuhen gegangen und habe mich manchmal gefragt: Warum so viel Hass und Bösartigkeit?

Auch berichten mir Patienten regelmäßig, dass sie ihren ganzen Mut zusammengenommen haben und ins Fitnessstudio gegangen sind. Man sollte ja erwarten, dass ein Mensch, der etwas ändern möchte, dort Motivation und Unterstützung erfährt. Doch oft ist es eher das Gegenteil: Es kommen abwertende Blicke und Sprüche, sodass Betroffene dann kein zweites Mal hingehen.

Ähnliches im Schwimmbad: Dabei ist Schwimmen eine sportliche Betätigung, die bei Adipositas ideal ist, weil man sein Gewicht im Wasser kaum spürt und dabei den gesamten Körper trainiert.

Frage: Was machen all diese Stigmatisierungen mit der Seele?

Manaridou: Die Gesellschaft vermittelt Betroffenen Schuldgefühle. Das kann zu einem Teufelskreis führen - insbesondere dann, wenn man keine Unterstützung von der Familie oder Freunden bekommt.

Betroffene ziehen sich zurück, verlassen vielleicht gar nicht mehr ihre Wohnung, haben Probleme mit ihrem Selbstwert, fühlen sich hoffnungslos und einsam. Wer das mit Essen kompensiert, nährt damit auch die Schuldgefühle weiter. Irgendwann kommt man da nicht mehr alleine raus, es kann zu schweren Depressionen mit Suizidgedanken kommen.

Frage: Wie kann Betroffenen der Weg aus der Adipositas gelingen?

Manaridou: Es gibt leider viel zu wenige Angebote für Betroffene. Ernährungsberatung beispielsweise wird nur anteilig von der gesetzlichen Krankenkasse bezahlt, auf eine Verhaltenstherapie muss man lange warten.

Im Wesentlichen gibt es die Adipositas-Chirurgie, also einen operativen Eingriff am Magen-Darm-Trakt bei krankhaftem Übergewicht. Bevor die Krankenkasse eine Operation bewilligt, muss ausgeschlossen werden, dass eine psychische Erkrankung vorliegt, die behandelt werden sollte.

Betroffene können ihr Gewicht nur nachhaltig reduzieren, wenn sie ihr Essverhalten umstellen - und das ist gar nicht so einfach. Man sagt, ein Mensch nimmt im Jahr durchschnittlich 1.000 Mahlzeiten zu sich. Wer 45 Jahre alt ist, hat also rund 45.000 Mahlzeiten verspeist. Klar, dass sich Gewohnheiten nicht von heute auf morgen verändern lassen. Das geht nur in kleinen Schritten.

Frage: Wie kann man Betroffene unterstützen innerhalb der Familie - oder auch in Freundschaften?

Manaridou: In der Familie sollte es ein Verständnis dafür geben, dass Abnehmen nur mit Unterstützung geht. Regelmäßig erlebe ich, dass Patienten sagen: «Ich will meine Ernährung umstellen, aber mein Mann macht das nicht mit oder die Kinder wollen das nicht. Aber ich schaffe es nicht, doppelt zu kochen.»

Und im Freundeskreis sollten bei Verabredungen nicht drei verschiedene Tortensorten auf dem Tisch stehen, wenn ein Freund oder eine Freundin gerade die Ernährung umstellt. Ein weiterer Tipp für Freunde: Die betroffene Person zum Sport begleiten, auch so signalisiert man: «Ich unterstütze dich.»