Doku-Tipp: Leonard Cohens „Hallelujah“ – ein Leben für ein Lied

Doku-Tipp: Leonard Cohen

Leonard Cohen: ein Reisender auf der Suche nach Sinn. Hier zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der französischen Fotografin Dominique Issermann

Getty Images, Préau/Sygma

„Geben sich alle Musiker so viel Mühe bei einem Popsong?“, fragt ihn der New Yorker Musikjournalist Larry Sloman und stellt damit die zentrale Frage der Dokumentation. Denn Leonard Cohen schuf mit seinem hymnischen „Hallelujah“ eine komplexe Genese, die in der popkulturellen Musikgeschichte ihresgleichen sucht. Für Cohen wurde der Entstehungsprozess, oder besser: die Schöpfungsgeschichte – eine religiöse Konnotation scheint an dieser Stelle nicht ungeeignet –, existentiell: Erst nach fünf aufreibenden Jahren auf der Suche nach göttlichen Sphären, etlichen Sinn- und Schaffenskrisen, mindestens 150 geschriebenen und wieder verworfenen Strophen fühlte sich Cohen mit legendären Versen wie „But you don't really care for music, do ya?“ bereit für eine Veröffentlichung. Zu der sollte es so schnell aber nicht kommen.

Am 21. September 2024 wäre Leonard Cohen 90 Jahre alt geworden. Arte nimmt dies zum Anlass und zeigt die erstmals 2021 auf den Internationalen Filmfestspielen in Venedig vorgestellte Dokumentation „Hallelujah: Leonard Cohen, a Journey, a Song“, die anhand der Entwicklungsetappen des Lieds auch Cohens Biografie ausleuchtet und so den Spagat macht zwischen einer Hommage an sein musikalisches Schaffen und der Reflexion über die Kraft der Musik, Menschen auf der ganzen Welt zu berühren.

Leonard Cohen – ein Poet mit vielen Gesichtern

Erst mit Anfang 30 beginnt der 1934 geborene Kanadier mit dem Schreiben von Songtexten. Zum damaligen Zeitpunkt kann er noch nicht einmal Noten lesen. Doch er wird zu einem der größten Singer-Songwriter des 20. Jahrhunderts. Keine Stimme klingt bei Liebeskummer so bittersüß und nostalgisch wie Leonard Cohens in „So Long, Marianne“, keine Akkorde sind so subtil angelegt und bohren sich doch so schmerzhaft in die Seele wie Leonard Cohens in „Famous Blue Raincoat“, ein Song, in dem er Verrat, Verlust und Vergebung beweint. „Erst bricht Leonard Cohen mit seinen Versen das Herz, dann heilt er es“, sagt die amerikanische Sängerin Brandi Carlile treffend. In der Sanftheit seiner Texte fühlt man bestätigt, worin sich viele Weggefährt*innen, die in der Doku zu Wort kommen, einig sind: Leonard Cohen ist nicht nur ein äußerst gutmütiger Mensch, der von der ersten Sekunde einer Begegnung an Wärme auszustrahlen vermag, sondern er besitzt ein untrügliches Gespür für das Leid und den Schmerz anderer. Innerlich ist er oft selbst zerrissen zwischen all dem, was er ist: Casanova und Mönch, Sinnsuchender und mit seinen Versen Antwortgebender, immer auf der spirituellen Reise zu sich selbst.

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Leonard Cohen Mitte der 1980er Jahre beim Jammen in einem kleinen Aufnahmestudio in Lower Manhattan

Getty Images, Oliver Morris

„Hallelujah“ – die Geschichte einer Hymne

Die Dokumentation entfaltet Cohens Charakter und sein Leben anhand der Entschlüsselung seines heute wohl bekanntesten Songs „Hallelujah“, dessen Stationen zu seinen eigenen werden. Die Komposition des Lieds gilt als Opus Magnum des Musikers, an dem er pausenlos arbeitet, für das er zeitweilig alles aufgibt. Rückblickend war es wohl genau dieser Kraftakt, der es zu einem musikalischen Kunstwerk erheben konnte: Wem rauschen keine Emotionen unmittelbar vom Ohr durch den Rest des Körpers, wen ergreifen nicht Verse wie „She tied you to her kitchen chair / She broke your throne and she cut your hair“?

Doch als Cohen den Song 1984 aufnehmen möchte, stellt sich seine Plattenfirma Columbia Records quer und verweigert, ihn und das dazugehörige Album „Various Positions“ zu veröffentlichen. Es sei nicht gut genug. Dass Cohen in aufreibenden Prozessen über Jahre hinweg Notizbücher über Notizbücher mit Versen und Strophen füllte, erklärt, dass diese Entscheidung für ihn zunächst einer persönlichen Tragödie gleicht. Der Musiker stürzt in eine Krise, „Hallelujah“ fristet ein völlig unbedeutsames Dasein, ehe Bob Dylan 1988 beginnt, den Song immer wieder live auf seiner „Never Ending Tour“ zu covern. Die Botschaft über dessen Tiefgründigkeit und emotionale Power in all seinen leisen Klängen verbreitet sich rasant über den Erdball hinweg. Es folgen weitere Interpretationen von John Cale, Jeff Buckley, Rufus Wainwright und Willie Nelson, deren Stimmen das Lied zu immer weiteren Renaissancen führen. Heute gilt „Hallelujah“ als meistgecoverter Song aller Zeiten, was ihm nicht immer ein würdiges Schicksal auferlegen mag, aber zeigt, in welchen Dimensionen es Menschen berührt. Welche Tragweite Columbia Records damals verkannt hatte.

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Leonard Cohen und Judy Collins backstage beim Newport Folk Festival im Sommer 1967

Getty Images, David Gahr

Der dokumentarische Blick auf ein Meisterwerk

Als Fundament dient der Dokumentation Alan Lights Buch „The Holy or the Broken“, in dem sich der Autor 2012 erstmals dem komplexen Gerüst von „Hallelujah“ und dessen Entstehung annimmt. Noch vor Leonard Cohens Tod im Jahr 2016 führen die Regisseur*innen Dayna Goldfine und Dan Geller zahlreiche Interviews, in denen der Musiker selbst intensiv über den Schaffensprozess, seine damit verbundenen Sinnkrisen und das Göttliche reflektiert. Samt der Gesprächsaufzeichnungen mit Weggefährt*innen wie seiner langjährigen Partnerin Dominique Issermann oder seinem Produzenten John Lissauer sammeln die Filmemacher*innen über 70 Stunden Interviewmaterial, das sie mit einer Vielzahl biografischer Relikte und seltener Archiv- und Audiodokumente mixen, darunter Auszüge aus Cohens persönlichen Notiz- und Tagebüchern, Fotos, Filmausschnitte von TV- und Konzertauftritten, bevor sie all das auf eine Länge von zwei Stunden eindampfen. Dass dieses Kondensat nur zu einem äußerst vielschichtigen Porträt von Song und Songschreiber werden konnte, erklärt sich von selbst. Angereichert mit einer Fülle von Fakten, Lyrics und Anekdoten umkreist es mit viel Sorgfalt und künstlerischem Respekt das Lied, das heute exemplarisch für Leonard Cohens Oeuvre steht.

Die Dokumentation „Hallelujah: Leonard Cohen, a Journey, a Song“ ist noch bis zum 20. Oktober 2024 in der Arte Mediathek zu sehen.