Wie entstehen moderne Cocktail-Klassiker? Die Barkeeper Jeffrey Morgenthaler und Jörg Meyer haben die Antwort
Wenn sich in Berlin die gesamte Bar- und Spirituosen-Szene der Welt trifft, dann findet gerade der Bar Convent Berlin statt, oder kurz: Es ist BCB. Neben einer großen Messe, auf der alle relevanten Neuheiten ausgestellt werden, finden überall in der Hauptstadt Events, Partys und Mixing-Lessons statt. Wir waren zu Gast im The Grand Campari Hotel. Campari hat für drei Tage das Soho House in Berlin übernommen und die größten internationalen Barkeeper*innen eingeladen, dort ihre Drinks zu mixen. Wir stehen bei Jeffrey Morgenthaler und Jörg Meyer, um ihre Cocktails zu probieren, als wir erfahren: Sie klauen die Rezepte von anderen Bars. Was? Moment, das wollten wir genauer wissen und haben am nächsten Tag bei den beiden Bar-Legenden nachgefragt und sind in die Welt der modernen Cocktail-Klassiker eingeführt worden. Drei Rezepte moderner Cocktail-Klassiker haben wir für Sie gleich mitgebracht – und einen Drink, der es vielleicht bald wird.
Esquire: Herr Meyer, Herr Morgenthaler, warum klauen Sie Cocktail-Rezepte?
Jörg Meyer: Das "Klauen" von Rezepten passiert in der Bar-Szene tagtäglich. Man nimmt das Rezept eines Klassikers aus einer anderen Bar und versieht den Drink mit seinem eigenen Twist. In der Bar-Szene ist das eher eine Art Kompliment als ein Verbrechen. Ein Koch würde anders reagieren, wenn man sein Rezept kopiert.
Jeffrey Morgenthaler: Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Es ist die häufigste Art und Weise, neue Rezepte zu kreieren. In Workshops, die ich gebe, erzähle ich ab und zu die Geschichte, wie der Negroni entstand – eigentlich ist er eine Variation des Mint Julep.
Zwischen diesen Drinks liegen Welten. Würden Sie uns diese Geschichte erzählen?
Morgenthaler: Der Negroni stammt vom Mint Julep ab – das glaube ich ernsthaft. Wenn man die Geschichte zurückverfolgt, ist jeder einzelne Schritt zwischen dem Mint Julep und dem Negroni eine Variation oder eben ein Stolen Drink. Der Mint Julep basiert auf drei Zutaten: Bourbon Whiskey, Zucker und etwas für den Geschmack – Minze. Das ist einer der ältesten Cocktails der USA. Dann tauchten die Bitters in den USA auf. Jemand ersetzte die Minze im Mint Julep durch Bitters und kreierte den Old Fashioned. Als nächstes wurde Wermut beliebt. Jemand ersetzte den Zucker im Old Fashioned durch süßen Wermut, und der Manhattan war geboren. Im Zuge der Prohibition wurde der Whiskey durch Gin ersetzt, und man entwickelte den Martini Cocktail. Zuletzt brachte man diesen Drink mit nach Italien und verlangte: Gin, Wermut und Bitters. Daraus wurde dann ein Cocktail, der Gin, Wermut und etwas Bitteres beinhaltete, nämlich Campari – und der Negroni war geboren. Was ich damit sagen will: klauen, abändern, interpretieren – das gab es schon immer in der Geschichte der Cocktails und führt letztlich einfach nur zu neuen guten Cocktails.
Gilt das auch für moderne Drink-Klassiker?
Morgenthaler: Noch mehr als für die Old-School-Klassiker. Jeder moderne Drink ist eine Variation eines Vorgängers.
Sie haben eine moderne Version des Amaretto Sours erfunden, Jörg Meyer ist der Erfinder des Gin Basil Smash – beides moderne Klassiker. Was braucht ein Drink heutzutage, um zu einem modernen Klassiker zu werden?
Morgenthaler: Natürlich sollte er zuallererst einmal gut schmecken, das ist klar. Er muss so einfach wie möglich sein, man muss den Drink nachmixen können – auch zu Hause. Mit geklärtem Ananassaft kann niemand etwas anfangen. Man sollte einfache Zutaten verwenden, die man überall findet. Und dann geht es um den Namen. Wenn der gut ist, ist das meiner Meinung nach bereits der halbe Erfolg.
Meyer: Das mit dem Namen unterschreibe ich sofort. Meiner Meinung nach ist das der Grund für den Erfolg von Drinks wie Pornstar Martini, Penicillin und Naked and Famous. Einfach, leicht zu merken und markant. Es geht aber auch darum, offen mit seinen Rezepten umzugehen, keine zu teuren Spirituosen zu verwenden, viele gute Kontakte zu haben und nicht zu vergessen: eine schöne Farbe. Hat nicht nur beim Swimmingpool von Charles Schumann geklappt, sondern auch beim Gin Basil Smash.
Würden Sie beide Ihre eigenen Drinks in einer Bar bestellen?
Meyer: Ausschließlich inkognito, dann kann das sehr lustig sein.
Morgenthaler: Niemals.
1. Amaretto Sour
Jeffrey Morgenthaler hat diesen eigentlich ziemlich trashigen, schon älteren Drink genommen und ihn renoviert. Diese Grundsanierung war 2012 auch mehr als notwendig, denn so wirklich konnte man den Sour nie trinken. Der Amaretto ist zu süß, zu schwach, um sich gegen die Säure der Zitrone durchzusetzen. Morgenthaler kopierte das Rezept, fügte einen Schuss Bourbon dazu, feilte an den Mischungsverhältnissen und revolutionierte den Drink, der dank ihm heute ein echter moderner Klassiker ist.
Zutaten:
45 ml Amaretto
22,5 ml Bourbon Whiskey
30 ml frischer Zitronensaft
1 TL Zuckersirup
15 ml frisches Eiweiß
Zubereitung:
Alle Zutaten in einen mit Eiswürfeln gefüllten Cocktailshaker geben. Für 20 Sekunden shaken und anschließend in einen Tumbler über frische Eiswürfel abseihen. Optional mit einer Zitronenzeste und Maraschinokirsche servieren.
2. Gin Basil Smash
Als Jörg Meyer den Gin Basil Smash erfand, traf er den Zeitgeist. Eigentlich stammt dieser Drink von einem Whiskey Smash ab, den er in der Bemelman's Bar im Carlyle Hotel in New York getrunken hatte. In Deutschland war gerade der Gin-Trend angekommen. Also versuchte er in seiner Le Lion Bar in Hamburg, den Bourbon durch Gin zu ersetzen. Das klappte gut. Im Restaurant nebenan machten sie gerade Pesto, kistenweise Basilikum wurde angeliefert. Das inspirierte ihn dazu, die Minze durch Basilikum zu ersetzen – und der Gin Basil Smash war geboren.
Zutaten:
60 ml Rutte Gin
30 ml frischer Zitronensaft
22,5 ml Zuckersirup
10 Blätter Basilikum
Zubereitung:
Alle Zutaten in einen mit Eiswürfeln gefüllten Cocktailshaker geben. Für 30 Sekunden sehr kräftig shaken und anschließend in einen Tumbler über frische Eiswürfel doppelt abseihen. Mit frischem Basilikum servieren.
3. Penicillin
Es war Sam Ross aus der legendären Milk & Honey Bar in New York, der den Penicillin in den Nullerjahren erfand und zu einem modernen Cocktail-Klassiker machte. Stellen Sie sich einen Whisky Sour vor, bei dem jede Zutat außer dem Zitronensaft ersetzt wurde – und zwar durch etwas, das deutlich mehr Kick hat. Einfacher Zuckersirup wurde durch eine Mischung aus Honig- und Ingwersirup ersetzt, und der Blended Scotch Whisky durch eine Kombination aus Blended Scotch und rauchigem Islay Single Malt. Fertig ist ein Cocktail, der das Zeug hat, jedes Leiden erträglicher zu machen – oder gar zu heilen. Penicillin eben.
Zutaten:
60 ml Blended Scotch
22 ml frischer Zitronensaft
11 ml Ingwersirup
11 ml Honigsirup
1 Schuss Islay Single Malt
Zubereitung:
Alle Zutaten (bis auf den Islay Single Malt) in einen mit Eiswürfeln gefüllten Cocktailshaker geben und 20 Sekunden shaken. Anschließend in einen Tumbler über frische Eiswürfel abseihen. Zum Schluss den Islay Single Malt vorsichtig über die Rückseite eines Löffels über den Drink geben (floaten). Optional mit kandiertem Ingwer servieren.
Bald der nächste moderne Cocktailklassiker? Der Old Red Jamaican
Kommen wir zum letzten Drink, der noch kein moderner Klassiker ist, sich aber von einem ableitet und bald selbst zu einem werden könnte. Aber von Anfang an: Der Old Cuban ist ein moderner Klassiker von Audrey Saunders, eine der bekanntesten Barkeeperinnen der Welt, die ihn 2002 erfand. Das ist inzwischen über 20 Jahre her, und es wurde Zeit, dass auch dieser moderne Klassiker neu interpretiert wird. Dafür verantwortlich waren Meyer und Morgenthaler im The Grand Campari Hotel in Berlin. Kubanischer Rum wird durch Appleton aus Jamaika ersetzt, und statt Bitters kommt Campari zum Einsatz. Klein, kräftig und elegant.
Zutaten:
40 ml Appleton 8 Years
20 ml Campari
30 ml Limettensaft
15 ml Zuckersirup
5-7 Blätter Minze
Lallier Champagner
Zubereitung:
Alle Zutaten (außer Champagner) in einen mit Eiswürfeln gefüllten Cocktailshaker geben und für 30 Sekunden sehr kräftig shaken. Anschließend doppelt in ein Coupette-Glas abseihen und den Champagner dazugeben. Mit frischer Minze servieren.