Introversion: Warum sie eine unterschätzte Stärke im Job ist
„Eigentlich sind wir sehr zufrieden mit Ihnen, aber Sie müssen dringend mehr aus sich herauskommen.“ Wie oft habe ich diesen Satz in Feedback-Gesprächen gehört. Und jedes Mal dachte ich, wenn dieser gutgemeinte Ratschlag fiel: „Stimmt, muss ich echt. Ich muss lauter sein, mich mehr in den Vordergrund drängen, auf mich und meine Arbeit lautstark aufmerksam machen, mich aggressiver ‚verkaufen‘“. Doch mittlerweile weiß ich: Gar nichts muss ich. Denn introvertierte Menschen strahlen vielleicht nicht so hell wie ihre extrovertierten Kollegen*innen, aber deshalb sind sie für ein Team nicht weniger Wert – im Gegenteil.
In der Stille liegt die Kraft
Alle lieben die Extrovertierten – vor allem in der Arbeitswelt. Gleichzeitig werden die Leistungen introvertierter Menschen leichter übersehen, weil sie sich weniger vor ihren Vorgesetzten profilieren. Auch Netzwerken ist eher nichts für Introvertierte, weil sie Small Talk und Veranstaltungen mit vielen Menschen oft als ziemlich anstrengend empfinden. Aber gerade, wenn es um die Zusammenarbeit mit anderen geht, bringen ruhigere Charaktere laut Expert*innen Vorteile: Sie sind emphatischer, hören besser zu, können sich oft besser selbst hinterfragen und Dinge besser auf den Punkt bringen. Außerdem sind sie gute Teamplayer, weil sie nicht immer auf dem eigenen Standpunkt beharren, sondern sich auch mal unterordnen können.
Mittlerweile wissen wir, dass ein Team von Diversität sehr profitieren kann. Und deshalb ist es auch sehr sinnvoll, Menschen mit unterschiedlichen Charaktereigenschaften in einer Abteilung zusammenzubringen.
Wie Unternehmen Introvertierte fördern
Es gibt einen großen Irrtum, dem auch die Vorgesetzten in meinen Feedback-Gesprächen oft aufgesessen sind: Introversion wird oft gleichgesetzt mit Schüchternheit. Das sind aber zwei völlig unterschiedliche Dinge. Bei Schüchternheit handelt es sich um eine soziale Angst, die überwunden werden kann. Schüchterne Menschen würden sich vielleicht gerne in eine Diskussion einmischen oder ihre Erfolge mehr herausstellen. Sie trauen sich aber nicht. Anders ist es bei introvertierten Menschen: Die Introversion ist Teil ihres Charakters. Introvertierte haben also überhaupt nicht das Bedürfnis, im Mittelpunkt zu stehen. Es wäre mir also unmöglich, „mehr aus mir herauszukommen“, weil die Introversion ein Teil von mir ist, eine Präferenz, die ich gar nicht ablegen kann, geschweige denn will.
Als introvertierter Mensch ist die einfachste Lösung die naheliegendste: Suchen Sie sich den richtigen Job. Eine Stelle in der Buchhaltung wird für Introvertierte vielleicht einfacher sein als eine Karriere als Coach*in oder Kundenberater*in. Doch auch wenn der Traumjob nicht unbedingt von Stille und Abgeschiedenheit bestimmt wird, können Introvertierte trotzdem darin aufgehen. Bestes Beispiel: Angela Merkel sagt von sich selbst, introvertiert zu sein. Trotzdem bestimmten öffentliche Reden, Empfänge und Small Talk mit wichtigen Personen 16 Jahre lang ihr Leben als Bundeskanzlerin.
Unternehmen können hingegen sehr wohl introvertierte Menschen im Arbeitsalltag unterstützen. Zum Beispiel arbeiten Introvertierte lieber zurückgezogen als im Großraumbüro. Wenn es die Arbeit also erlaubt, sollte auch die Möglichkeit auf Home Office bestehen. Auch neue Diskussionsformate müssen her, damit Introvertierte ihre Ideen nicht gleich vor der versammelten Mannschaft präsentieren, sondern sie erst einmal für sich notieren oder mit einzelnen Teampartner*innen besprechen. Außerdem ist es die Aufgabe von Führungskräften, die Erfolge von Introvertierten im Team sichtbar zu machen und zum Beispiel öfters zu loben, wenn sie es selbst nicht tun.