Jannik Sinner, die Nummer 1 der Tennis-Weltrangliste, über sein Jahr 2024
Der Tag ist düster und windig. Ich treffe Jannik Sinner in einem Hotel in Monte Carlo. Er taucht in Tenniskleidung auf, vielleicht ein bisschen eingeschüchtert, aber mit viel Witz. Ich sage ihm, dass er größer zu sein scheint als bei unserem letzten Treffen. „Oder vielleicht bist du mit zunehmendem Alter kleiner geworden", sagt er.
Die Nummer 1 im Tennis: Esquire trifft Jannik Sinner in Monte Carlo
Text: Giovanni Auffredi
Fotos: Philipp Gay
Styling: Nik Piras
An seinem Handgelenk trägt er seine Rolex GMT-Master II mit einer schwarz-braunen Lünette. Er nimmt sie ab, damit ich die Inschrift auf der Rückseite sehen kann, die seinen ersten Grand-Slam-Sieg feiert, den er bei den Australian Open im Januar dieses Jahres errang, als er Daniil Medwedew im Finale schlug. „So hat das unglaublichste Jahr meines Lebens begonnen", sagt er.
Sinner ist 23 Jahre alt. Seit dem 10. Juni ist er die Nummer eins der ATP-Tennisweltrangliste: der erste Italiener überhaupt, der diese Position einnimmt. Er ist auch der erste Italiener, der in der gleichen Saison zwei Grand-Slam-Turniere gewonnen hat, neben den Australien Open nämlich auch die US Open im September. Er ist noch jung, doch es war ein langer Weg an die Spitze. Er wuchs in Sesto Pusteria auf, einem Dorf an der Grenze zwischen Italien und Österreich. Zu Hause sprechen seine Mutter, Siglinde, und sein Vater, Hanspeter, Deutsch. Als Sinner im Alter von 14 Jahren seine Familie verließ, um eine Tennisakademie in Bordighera nahe der französischen Grenze zu besuchen – 700 Kilometer von seiner Heimat entfernt – sprach er fast kein Italienisch. Jetzt ist er eine Sensation in Italien – wo die Anmeldungen für Tennisschulen in die Höhe schnellen – und darüber hinaus. Sein markantes rotes Haar und seine schlaksige Statur, sein Fokus auf mentale Gesundheit statt auf Sieg um jeden Preis und seine Fans, die „Carota-Boys" – Karottenjungs –, die häufig am Spielfeldrand gesichtet werden, machen Sinner zum Gegenteil eines Tennisroboters. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum Rolex ihn als Botschafter haben möchte.
„Das erfüllt mich mit großem Stolz", sagt er. „Mir ist es wichtig, mit eleganten Menschen zusammenzuarbeiten, die einen hohen Standard aufrechterhalten." Inzwischen sprechen die Ergebnisse für sich selbst. Neben den Australian Open und den US Open hat Sinner in diesem Jahr auch in Rotterdam, Miami, Halle und Cincinnati triumphiert und dabei mehr als 11 Millionen Euro an Preisgeldern gewonnen.
Tennis-Ass Jannik Sinner über sein Spiel, Verletzungen und Rückschläge
Und doch war es auch ein Jahr der großen Enttäuschungen. Im Mai zwang eine Hüftverletzung Sinner zur Absage der Madrid Open. Auch das Turnier in Rom verpasste er. Er musste Niederlagen einstecken – gegen Carlos Alcaraz im Halbfinale von Roland Garros und im Viertelfinale von Wimbledon gegen Daniil Medvedev. Die Olympischen Spiele in Paris verpasste er wegen einer Mandelentzündung.
Vor allem aber musste er sich mit dem Verdacht des Dopings auseinandersetzen. Am 10. März in Indian Wells in Kalifornien und erneut am 18. März wurde er positiv auf weniger als ein Milliardstel Gramm des verbotenen anabolen Steroids Clostebol getestet. Sinner wurde zunächst für zwei Tage – 4. und 5. April – vom Tennissport suspendiert, bevor seine Suspendierung in der Berufung aufgehoben wurde. Dann wurde er erneut gesperrt, und zwar vom 17. bis 20. April. Seine Verteidigung war einfach: Das Clostebol, so hatte sein Team herausgefunden, war in einem rezeptfreien Spray enthalten, das Sinners Physio, Giacomo Nardi, zur Behandlung einer Schnittwunde an seinem eigenen Finger verwendet hatte. Als Nardi Sinner massierte, wurden versehentlich und unwissentlich Spuren der verbotenen Substanz auf ihn übertragen. Die ITIA (International Tennis Integrity Agency) akzeptierte diese Erklärung und sprach Sinner von jeglichem Fehlverhalten frei.
„Es war eine harte Zeit", erzählt er. „Ich konnte mit niemandem darüber reden. Ich konnte mir keine Luft machen oder Hilfe holen. Alle Leute, die mich kannten und mich spielen sahen, wussten, dass mit mir etwas nicht stimmte. Ich habe schlaflose Nächte verbracht, denn selbst wenn man sich seiner Unschuld sicher ist, weiß man, dass diese Dinge kompliziert sind. Alle haben sofort die Wahrheit gesagt, und so konnte ich spielen. Aber in Wimbledon, auf dem Platz, war ich kreidebleich. Und auch danach hatte ich ein mulmiges Gefühl bei den Leuten. Ich ging zum Training in das Clubhaus von Cincinnati und dachte: `Wie sehen sie mich an? Was denken sie wirklich von mir?' Mir wurde klar, wer meine wahren Freunde sind."
Es schien, als sei die Angelegenheit abgeschlossen. Doch im September gab die WADA, die Welt-Anti-Doping-Agentur, bekannt, dass sie gegen Sinner Berufung einlegt und eine Disqualifikation wegen Verschuldens oder Fahrlässigkeit fordert. Dadurch warten auf Sinner erneut drei bis sechs Monate in Ungewissheit. Doch sein Spirit ist stark, und das Spiel ist nicht beeinträchtigt. Im Oktober erreichte er das Finale der China Open in Peking.
"Ich bin in diesem Jahr so sehr gewachsen, sowohl mental als auch körperlich."
Jannik Sinner
Esquire: Wie meinen Sie das?
Jannik Sinner: Dass die Ergebnisse, die man jetzt sieht, nicht vom Himmel gefallen sind. Sie sind das Ergebnis der harten Arbeit, die wir in den vergangenen zwei Jahren geleistet haben. Ich bin Sohn eines Kochs und weiß, dass man ein gutes Gericht nicht in ein paar Minuten hinkriegt. Man muss lernen, verstehen, probieren und noch mal probieren, dann wird das fertige Gericht gelingen.
Was haben Sie auf dem Spielfeld gelernt?
Taktik. Taktik ist wichtig, weil man mit ihr ein Spiel, das nicht gut läuft, beeinflussen kann. Als Simone Vagnozzi zu meinem Team stieß, versorgte er mich mit vielen Informationen im Spiel. Ich habe, ehrlich gesagt, nichts verstanden. Er hat mir gesagt, dass man ab und zu einen Slice spielen soll, also den Ball anschneiden. Aber ich wusste gar nicht, wie ein Slice geht. Also haben wir Änderungen vorgenommen. Es ist ein Schlag, den ich nicht einmal technisch korrekt ausführe. Denn ich spiele beidhändig. Trotzdem fühle ich mich jetzt sicherer damit. Simone ist gut für mich, wir reden viel und er zwingt mir nichts auf. Er fordert mich, will, dass ich flüssiger spiele und mit dem richtigen Abstand. Mit Ballgefühl kann man viel Kraft sparen.
Worin können Sie sich noch steigern?
Im Finale der US Open habe ich nicht gut aufgeschlagen. Kann passieren. Aber da ist noch Platz nach oben. Ich würde gerne mehr als 60 Prozent meiner ersten Aufschläge ins Feld kriegen. Ich bin davon überzeugt, dass man, egal wie viel man trainiert, immer einen schlechten Tag haben kann. Aber es ist wichtig, dass man seine Schläge variieren kann und dass man Selbstvertrauen hat, wenn man ans Netz geht.
Wie würden Sie jemandem, der keine Ahnung von Tennis hat, Ihren Stil beschreiben?
Halb solide, halb aggressiv. Mit meinem defensiven Spiel habe ich etwas zu kämpfen. Am besten lasse ich mich gar nicht erst in die Defensive bringen. Mein Tennis ist vielseitig, aber am Netz bin ich immer noch nicht richtig gut. Ein Spieler, an dem ich sehr gewachsen bin, ist Medwedew. Ich habe nie Serve-and-Volley gespielt, aber er hat mich dazu gezwungen, besser darin zu werden, um ihn zu schlagen. Gegen andere muss ich mehr Rückhand-Longline spielen. Im Tennis wächst man an der Beziehung zum Gegner. Wie komme ich in den Kopf meines Gegners? Wenn man darauf die richtige Antwort findet, ändert sich das gesamte Spiel.
Wie finden Sie in diesem ganzen Chaos die nötige Ruhe, um sich konzentriert vorzubereiten?
Indem ich mich selbst akzeptiere. Ich bin reifer geworden, ich verstehe mich besser. Es mag albern klingen, aber sich selbst kennen zu lernen, ist grundlegend. Daran habe ich intensiv mit meinem Mentalcoach Riccardo Ceccarelli gearbeitet. Manchmal habe ich verloren, weil ich zu viel Kraft brauchte, dann kamen Krämpfe, ich fühlte mich nicht gut. Als ich mir das eingestand, machte ich kleine Schritte nach vorn. Im Spiel ist es einfacher für mich, da vergesse ich Fehler total schnell. Im Training hingegen suche ich ständig nach Verbesserungspotenzial. Aber das ist nicht richtig.
Verändern Ergebnisse Ihren Blick auf sich selbst?
Nein. Alle reden immer von Resultaten. Für mich sind sie die Folge dessen, wie man sich auf dem Platz ausdrücken kann. Wenn man auf hohem Niveau spielt und hofft, dass der Körper durchhält, braucht man sich nicht infrage zu stellen – die Ergebnisse werden kommen. Meine Familie versteht mich, mein Team versteht mich, vielleicht sogar besser als meine Eltern, ich finde viel Seelenfrieden dadurch. Wir leben in Hotels, Flugzeugen, wir reisen ständig, sie machen mich zu dem Jungen, der ich bin, sie verstehen, was ich brauche.
Und, was brauchen Sie?
Einfache Dinge, am besten geht es mir, wenn ich meine Leidenschaften ausleben kann. Ich liebe Autofahren, da fühle ich mich einfach großartig. Allein, isoliert von der Welt, ich drehe die Musik auf und höre dem Motor zu. Dabei lade ich richtig auf.
2024 kam auch jemand Neues in Ihr Leben: Anna Kalinskaya, Tenniskollegin und Ihre Partnerin. Was hat sich dadurch verändert?
Ich glaube nicht, dass sich etwas geändert hat. Eine Freundin zu haben, ist etwas, das entweder ein gutes oder ein schlechtes Gefühl vermittelt. Ich möchte, dass es etwas ganz Natürliches ist, das ganz normal in mein Leben kommt. Ich kann es mir nicht leisten, mich als Spieler oder als Mensch zu verändern. Das ist noch nicht passiert, deshalb funktioniert es ja auch.
Kann Sie gar nichts aus der Bahn werfen?
Wenn man ein persönliches Problem hat, ist es nicht einfach, auf dem Platz zu stehen. Als meine Tante Margith im Sterben lag, die so viel für mich als Kind getan hat, hat mich das sehr getroffen.
Denken Sie manchmal daran, dass Sie der erfolgreichste italienische Tennisspieler aller Zeiten sind?
Sie werden es nicht glauben, aber es war nie mein Ziel, in irgendetwas der Erfolgreichste zu sein. Ich lege mehr Wert darauf, was für ein Mensch ich bin, mit welchen Menschen ich mich umgebe und wie viel Vertrauen ich ihnen entgegenbringen kann. Ich glaube nicht, dass man gut ist, wenn man gewinnt, und dass man nicht gut ist, wenn man verliert. Jeder von uns hat seine eigenen Talente. Das Glück liegt darin, einen Weg zu finden, sie zum Ausdruck zu bringen.
Aber wenn man Champion ist, ändert sich doch alles, oder?
Man steht viel mehr unter Druck. Aber ich glaube wirklich, dass es kein Geld gibt, das die Gesundheit und das Leben im Kreise von Menschen, die man liebt, ersetzen kann.
Ein großer Fußballspieler, Alessandro Del Piero, hat mal gesagt: „Verlieren macht mich krank.“ Was sagen Sie dazu?
Ich gehöre eher der Schule an, die sagt, dass man entweder gewinnt oder eben dazulernt. Ich habe aus den vielen Niederlagen gegen Novak Đoković viel gelernt. Das ist gut für dich; es weckt dich auf. Im Fußball spielt man vielleicht gegen Ronaldo und merkt, dass man sich beim nächsten Mal besser vorbereiten muss. Aber wann ist das nächste Mal? Im Tennis haben wir mehr Möglichkeiten, eine Niederlage wiedergutzumachen.
Die Italiener lieben Sie, aber sie beschweren sich auch ständig. Es scheint so, als müsse sich ein Champion ständig rechtfertigen. Sie haben noch kein Heimturnier gewonnen. Alle erwarten jetzt einen Sieg beim ATP-Finale in Turin.
Es stimmt, ich habe noch nie in Italien gewonnen. Es tat mir weh, nicht in Rom zu spielen. Es ist normal, Sportler, die man bewundert, in Frage zu stellen. Das ist eine Art des Anfeuerns. Für uns ist es ein Ansporn. Wenn niemand über mich reden würde, würde das bedeuten, dass ich nicht interessant bin.
Was haben Sie dieses Jahr falsch gemacht?
Tennis ist wichtig, aber ich habe nicht genug Zeit mit den Menschen verbracht, die ich liebe. Dafür muss ich mir Zeit nehmen, denn manche Dinge vergehen und kommen nie wieder zurück.
Digitech: Giuseppe Catesi
Foto-Assistenz: Carlo Carbonetti, Leonardo Galeotti
Grooming: Gianluca Grechi mit Produkten von Depot–The Male Tools & Co
Styling-Assistenz: Marco Visconti
Videomaker: Leonardo Ape
Produktion: Sabrina Bearzotti