Lampenfieber bei Kindern: So können Eltern helfen
Ein Kribbeln auf der Haut, Schmetterlinge im Bauch und manchmal auch erhöhte Temperatur und Herzrasen: Lampenfieber vor einem Bühnenauftritt, vor einer Schulprüfung oder vor einem wichtigen Spiel kann sich für Kinder häufig unangenehm anfühlen. Was Eltern tun und wie sie ihnen die Angst nehmen können, erklärt eine Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie im exklusiven Gespräch mit Yahoo Style.
Unwohlsein, zittrige Hände oder auch starkes Schwitzen: Lampenfieber kann viele Symptome mit sich bringen und taucht ebenso wie bei Erwachsenen auch bei Kindern auf, wenn ein Auftritt oder eine Prüfung bevorsteht und die Angst, zu versagen, groß ist. Wie intensiv Kinder Lampenfieber wahrnehmen, hängt davon ab, wie stark das jeweilige Nervensystem auf die entsprechenden Reize reagiert.
"Je nachdem, wie sich das Kind regulieren kann, so kann es auch Lampenfieber besser oder schlechter mental verarbeiten", erklärt Liliya Butenko, Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie aus Petershausen. Es gebe Kinder, die diese Aufregung brauchen, um diese aufregende Seite von sich auszuleben. "Sie brauchen den Kick von diesem Adrenalin, um sich selbst herauszufordern. Sie erleben Lampenfieber und lieben es", so Butenko. "Es gibt auch Kinder, die im alltäglichen Leben schüchtern sind. Auf der Bühne sind sie aber ganz anders und gehen aus sich heraus."
Sie habe beispielsweise eine Patientin, die Angst hat, vor Publikum oder vor ihrer Klasse zu sprechen. Die Diagnose laute: selektiver Mutismus. Das bedeutet, dass das Kind eine normale Sprachentwicklung hat, aber außerhalb des Zuhauses und vor Publikum nicht spricht. "Aber im Zirkus performt sie und hat sehr viel Freude, auf der Bühne zu stehen. Das war für mich ein Kontrast", meint Liliya Butenko. "Doch meine Patientin erklärt das so: 'Ich sehe die Zuschauer nicht, ich kenne sie nicht, sie bedeuten mir nicht so viel wie meine Klasse. Und ich muss dabei nicht sprechen, ich performe mit meinem Körper.'"
Wie erkläre ich einem Kind, was Lampenfieber ist?
Wie die Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie erläutert, ist es wichtig, den Kindern zu erklären, was im eigenen Körper passiert, um ihnen die Angst vor den Symptomen zu nehmen. Denn wenn Kinder die Physiologie dahinter verstehen, können sie auch die körperlich unangenehm wirkenden Reaktionen wie beispielsweise Herzrasen als positiv aufregend, notwendig und förderlich umdeuten.
"Der Körper entwickelt eine Reaktion, beispielsweise das Zittern, und man denkt, es sei etwas Schlechtes, weil es sich unangenehm anfühlt. Auch Fieber signalisiert, dass man krank sei. Die erste automatische Deutung ist: 'Es ist etwas nicht mit mir in Ordnung'", sagt die Ärztin, die als Autorin am Buch "Die ADHS-Fibel: ADHS im Kindes- und Jugendalter ganzheitlich behandeln" mitgewirkt hat. Ähnlich wie bei einem Fieber, das vor einem Infekt schützen soll, sei es so auch mit Lampenfieber und das müsse man den Kindern klarmachen. Beispielsweise so: "Dein Körper bereitet dich auf den Auftritt vor. Es ist nichts, was dich behindern sollte. Dein Körper bebt mit dir mit. Es ist eine positive Reaktion auf eine Extremleistung und bereitet deinen Körper auf diese außergewöhnlichen Leistungen vor. Dein Körper freut sich auf das bevorstehende Abenteuer wie bei einem Rendezvous und schüttet für dich Adrenalin aus, damit du diese besonderen Leistungen abrufen kannst und es ganz weit schaffst. Es ist ein Moment, in dem besondere Kräfte in dir entstehen, die du dann brauchst um z. B. auf der Bühne zu performen."
Wie kann man Kindern das Lampenfieber nehmen und sie besser auf Auftritte vorbereiten?
Das Wichtigste bei Kindern sei, auf ihren Körper einzugehen, findet Liliya Butenko. Wenn Kinder das Lampenfieber als eine positive Reaktion ansehen und nicht mehr als etwas Schlimmes, dann hätten sie weniger Angst davor. Das Kind müsse verstehen, dass es normal ist, dass der Körper diese vorbereitenden Hormone, man könnte sie auch Startschusshormone nennen, ausschüttet. Weil das Kind mehr Kraft benötigt, werden auch mehr dieser Startschusshormone produziert. "Wenn es sich für das Kind unangenehm anfühlt, hilft es ihm, wenn es das versteht: 'Mein Körper hilft mir jetzt. Weil ich so viele Hormone habe, schüttelt es mich wie beim Schüttelfrost.'"
Tom Beck erinnert sich an die Schule: "Sie war meine erste Bühne"
Diese Übungen helfen Kindern, gegen das Lampenfieber anzukämpfen
Bei allen Übungen ist die Sensibilität der Eltern gefragt. Man kann das alles vor den Auftritten üben. "In Ruhe üben, in Unruhe umsetzen", so die Expertin.
Abstand von den äußeren Reizen nehmen, zum Beispiel mit Kopfhörern, damit es nicht so laut ist.
Die Augen schließen und sich auf die Atmung konzentrieren – "Gehe in deinen ruhigen, inneren Raum, schließe die Augen und finde deine innere Ruhe. Durch deine Atmung kannst du deinen inneren Raum reinigen."
Liliya Butenko: "Wir verbringen fast hundert Prozent unseres Tages damit, Reize über die Augen aufzunehmen, Stichwort digitale Welt. Wir sprechen von einer visuellen Reizüberflutung. Gerade sensible Menschen reagieren empfindlich darauf. Wenn man die Augen schließt, ist das schon eine Art Meditation. Selbst wenn es nur für drei Sekunden ist, ist es heilsam."
Die Augen schließen und sich selbst umarmen – das gibt einem Ruhe und das Gefühl der Geborgenheit
Liliya Butenko: "Wir sprechen oft auch vom inneren Kind, das sich verloren fühlt und geschützt werden muss. Wenn man das den Kindern regelmäßig erklärt, dann verstehen sie das. Dann verstehen sie, dass sie nicht fliehen müssen und nicht krank sind, sondern dass sie gerade eine Stütze brauchen. Und die finden sie in sich, indem sie sich selbst umarmen, die Augen schließen und sich stabilisieren. Und man kann das bekräftigen, indem man das Kind auch von außen umarmt. Man gibt den Kindern Nestwärme. Und dabei nicht sowas wie 'Beruhige dich, beruhige dich, es ist nicht schlimm' sagen, weil man das Kind damit noch mehr beunruhigt, sondern eher 'Ich gebe dir ganz viel Kraft, sei umarmt, finde Stille in dir, komm raus und zeig, was in dir steckt.'"
Einen Schütteltanz machen – "Hilf’ deinem Körper dabei, die Startschusshormone besser zu verteilen. Wenn du auf diese Schüttelreaktion eingehst und mitschüttelst, dann hilft es dir."
Liliya Butenko: "Das, was der Körper macht, bewusst verstärken. Durch das Verstärken verteilen sich die Hormone besser im Körper und werden nicht so exzessiv sein, nicht mehr so erschütterlich. Einfach die Hände und Beine ausschütteln! Man steht ja quasi unter Strom und das muss man abschütteln."
London Grammar-Frontsängerin Hannah Reid: Sie hat kein Lampenfieber mehr
Die Hände wie Flügel ausbreiten.
Liliya Butenko: "Die Angst übersetzt bedeutet Enge. Das heißt, ich muss Breite schaffen. Kinder können das tun, indem sie mit den Händen Flügelbewegungen nachmachen. 'Du bist ein Adler und kannst hochfliegen und dir von oben die Situation anschauen.' Wenn man sich das alles im Flugzeugmodus ansieht, dann ist alles ganz klein und nicht mehr so bedeutsam. Und dann landet man wieder, behält aber seine Flügel."
Klopftechniken
Liliya Butenko: "Man klopft die Fingerspitzen einer Hand gegen die Fingerspitzen der anderen Hand, wie beim Klatschen, aber nur mit den Fingern. Dabei darf man einen leichten Schmerz verspüren. Oder man klopft mit den Fingerspitzen den Kopf und das Gesicht ab. Das synchronisiert die linke und rechte Gesichtshälfte. Im Gesicht sind sehr viele Muskeln und Nerven. Alleine, wenn man die Finger gegen die Finger klopft, muss man sich konzentrieren. Und wenn man sich konzentriert, dann beruhigt man sich schon."
Eltern können allein durch ihre Einstellung Stress abbauen
Und auch Eltern können Kindern die Angst nehmen. "Lampenfieber kann von mehreren Reizen kommen. Man ist innerlich und äußerlich aufgeregt. Ich würde empfehlen, für kurze Zeit, einen stillen Raum zu suchen, der nicht so beleuchtet ist", sagt Liliya Butenko. Wenn die Eltern Ruhe bewahren und nicht selbst in Panik verfallen, hilft das den Kindern oft auch schon.
"Viele Kinder erzählen mir, dass beispielsweise die Lehrerin vor einer Prüfung beginnt, Unruhe zu verbreiten. Dadurch wird bei den Kindern Stress ausgelöst. Viele Kinder sagen, wenn sie sofort anfangen würde, statt mit den Blättern zu rascheln, wäre es einfacher. Die Lehrerin versucht zwar, die Kinder zu mobilisieren, dabei wird aber auch Angst mobilisiert. Wenn sie reinkommen und sagen würde: 'Juhuuu, wir schreiben jetzt eine Probe!', und dabei noch Gummibärchen verteilen würde, wäre es leichter. Immer etwas Positives einbauen, Freude verbreiten. Leistung mit Freude."
Ab welchem Zeitpunkt sollte man professionelle Hilfe suchen?
Lampenfieber an sich sei keine Diagnose, erklärt die Expertin, doch es kann ungesund sein und benötige eine Behandlung oder Unterstützung, wenn es einen Leidensdruck bei Betroffenen auslöst. "Wenn das Kind emotional darunter leidet und es seine Entwicklung einschränkt, sollte man mit den Lehrern oder Trainern sprechen, eventuell auch mit einem Schulpsychologen", meint Butenko.
"Wenn das Kind regelmäßig schlechte Noten schreibt, dann sinkt auch sein Selbstwertgefühl. Das Kind ist ständig mit sich unzufrieden, sodass das dann weiterführende Folgen für die emotionale und mentale Gesundheit hat. Auch wenn Stressreaktionen in den anderen Situationen dysfunktional verlaufen, sprich keine zufriedenstellende Lösung gefunden werden kann, kann sich daraus eine Angststörung entwickeln. Dann sollte man auf alle Fälle einen Kinder- und Jugendpsychiater aufsuchen."
VIDEO: Florian Silbereisen: Schlimmes Lampenfieber