Mexico City – die Metropole der kreativen Zusammenkunft
In den Küchen und Kunststätten von Mexico Citywird die Geschichte gefeiert und für die Zukunft experimentiert. Während der Kunst- und Designmesse Zonamaco, die vom 5. bis 9. Februar stattfindet, lässt sich das besonders eindrücklich erleben.
Es beginnt mit dem Aufwachen. Wenn die ersten Karren mit Pan Dulce und Atole, dem traditionellen Heißgetränk, durch die Straßen rumpeln. Später am Tag werden sich die Aromen von in Schmalz kochenden Carnitas dazu mischen, von frischem Koriander und gedämpften Tamales. Der Klang vom Schnippeln und Brutzeln, von klirrenden Gläsern und klimperndem Besteck sind ein Soundtrack, der überall in der Stadt erklingt, denn „das Leben hier dreht sich ums Essen“. So beschreibt es Mariana Villegas Martínez. Die Köchin hat kürzlich in Roma Norte das Restaurant Lina eröffnet. Es ist ihre Beigabe zu den rund 57 000 Gastronomiebetrieben der Metropole. Zum Vergleich: Das sind mehr als siebenmal so viele wie etwa in Berlin. Mit der schieren Größe von Mexico City allein ist das nicht zu erklären. Schon eher ist die Vielfalt ein Beleg dafür, wie ernst die etwas über 22 Millionen Einwohner*innen von Ciudad de México, lokal oft einfach CDMX genannt, ihren Genuss nehmen.
Um herauszufinden, warum so viele Kreative aller Künste derzeit für die Stadt entflammen, trifft man sich daher am besten erst mal zu Tisch. Bei Lina (Avenida Yucatán 147) kommt man im minimalistischen, aber einladenden Ambiente zusammen, in dem wenig von der offenen Küche ablenkt. Betonung auf: zusammen. „Familie ist in Mexiko sehr wichtig, Mahlzeiten werden geteilt. Sie sind ein Moment zum Versammeln, Innehalten, Austauschen“, sagt Villegas Martínez, die in der Sterneküche des nahe gelegenen Pujol lernte.
Ihre Eigenkreationen wie Thunfisch-Crudo, gegrillter Criallo-Kürbis und Mango-Kuchen sollen Komfort mit Überraschung verbinden, sagt sie, und vor allem zum Lächeln bringen. „Es ist lustig, sogar während des Essens reden die Leute hierzulande oft übers Essen.“ Wie zum Beweis teilt sie direkt einige persönliche Lieblinge, darunter El Pialadero de Guadalajara für die Sandwich-Spezialität Torta Ahogada (Hamburgo 332) und das mexikanisch-französische Bistro Máximo (Avenida Álvaro Obregón 65).
Beide liegen nicht weit entfernt von Lina. Ohnehin ist man bei einem Spaziergang durch Roma und das angrenzende Condesa nie mehr als ein paar Schritte davon entfernt, hinter einer der Holztüren der prachtvollen Kolonial- und Art-déco-Bauten ein außergewöhnliches Restaurant zu finden.
Ich empfehle das Zusammensein bei einem Mezcal in der Bar Ticuchi in Polanco.
Köchin Mariana Villegas Martínez
Kaum zu verpassen sind die Lokale von Elena Reygadas. Neben dem Dauerbrenner Rosetta, wo sie die hiesige Küche frisch interpretiert – Klassiker auf der Karte: der vegane Taco mit einem Kohlblatt anstelle der Tortilla –, betreibt die Köchin unter anderem Lardo (empfiehlt sich für Sharing Plates-Brunch), die Rosetta Panaderías (der Besuch der Bäckereien lohnt sich bereits für Reygadas selbst erdachte Guaven- und Rosmarinbrötchen) und das Literaturcafé Nin. Reygadas hebt sich vielleicht dadurch ab, dass sie 2023 von der Fachjury der 50 Best-Ranglistezur weltweit besten Köchin erklärt wurde, ihr Erfolgsrezept ist stellvertretend für die lokale Kochkunst: erfinderisch, aber ungekünstelt, mit hohem Anspruch an die Zutaten und niemals überheblich.
Das gilt für feine Restaurants wie einfache Imbisse. Es ist nicht ungewöhnlich, bei einem winzigen Lokal wie Tizne Tacomotora an der Theke gemeinsam mit Bankangestellten und Bauarbeiter*innen anzustehen. Die Tortillas aus blauem Mais, die beispielsweise mit verkohlter Avocado und geräucherten BBQ-Cuts gefüllt sind, schmecken eben allen. Während man sich von Tiznes Pilar García und Jorge Linares erzählen lässt, dass sie mal mit einem Taco Bike auf Festivals anfingen, denkt man daran, dass Elena Reygadas ihr erstes Restaurant illegal in einem Haus in Roma eröffnete und an den bewusst provisorischen Charme vieler Lokale.
Erst mal loslegen, dann weitersehen – diese Energie strömt aus den Küchen in die Kunst- und Kreativstätten Mexico Citys. Eine davon ist Masa, ein gemeinsames Projekt des Künstlers Brian Thoreen mit dem Designer Héctor Esrawe und der Kuratorin Age Salajõe, das als nomadisches Ausstellungskonzept begann und inzwischen eine feste Galerie für „collectible design“ ist. Ihnen fehlte ein Ort für eben diese Art von Kunst, die das Experimentelle mit dem Funktionalen verbindet, erzählt Thoreen, „also beschlossen wir, es selbst zu machen und einfach eine Show zu veranstalten.“ Den nachhaltigen Erfolg schreibt der gebürtige Kalifornier auch der „Großzügigkeit“ der teilnehmenden Künstler*innen, Institutionen und Sammler*innen zu. Eben diese Großzügigkeit sei der Grund für ihn gewesen herzuziehen.
„Ich verliebte mich in die Stadt ab dem Moment, als ich 2015 hier ankam und nicht einen Menschen kannte. Ich habe noch nie einen Ort erlebt, der so offen ist“, sagt er. „In Städten mit einer lang etablierten und regelbasierten Kunst- und Designszene kann das freie Denken eingeschränkt sein. Hier gibt es eine totale Freiheit, fast eine kulturelle Erwartung, Regeln und Grenzen zu brechen. Den Ertrag sieht man überall, in der Architektur, dem Essen, der Kunst, dem Kino, der Einstellung der Menschen.“
Das Spielerische hat in Mexico City gewissermaßen Tradition, die zurückgeht auf Multitalente wie Mathias Goeritz, Max Cetto und, wahrscheinlich das prominenteste Beispiel, Luis Barragán. Wie modern dessen Verweben von Handwerk, Design und Architektur war, das kann man noch heute in seinen Bauten besichtigen, wie der Casa Barragán von 1947, dem Convento Capuchinas, das zwischen 1954 und 1963 entstand, und der Casa Gilardi, das letzte, in den Siebzigerjahren von Barragán persönlich vervollständigte Projekt. „Ich denke, dass der ideale Raum Elemente von Magie, Ruhe, Hexerei und Geheimnis enthalten muss“, ist von dem Pritzker-Preisträger überliefert. Sein Einsatz von Farben wird gerne als spirituell bezeichnet und wer etwa zum Townhouse Casa Gilardi pilgert, das er um einen Jakaranda-Baum errichtete, wer das Sonnengelb, Himmelblau und Pink der Wände in sich einziehen lässt, seine Andacht vor dem Licht auf sich wirken lässt, der wird dem sofort zustimmen.
Mich inspiriert immer ein Besuch beim interdisziplinären Kollektiv Laguna im Viertel Doctores.
Cecilia León de la Barra, Director Zona Maco Diseño
Barragán hat auch gesagt, dass er Grün nicht verwenden würde, das übernähme die Natur für ihn. Mexico City ist für eine Millionenmetropole, die lange als Moloch galt, erstaunlich bewachsen, von der üppig überwucherten Flaniermeile Avenida Ámsterdam, die man stundenlang entlang spazieren könnte, über die Pasaje El Parián bis zu den verwunschenen Innenhöfen. Die Übersättigung der Eindrücke setzt sich fort, kehrt man an Orten ein, die den Spirit von Barragán und seinen Weggefährt*innen heute fortführen und dabei eigene Abzweigungen im Design nehmen.
Orten wie Decada, dem zauberhaften Showroom für Vintage-Möbel von Cecilia Tena und Lucía Corredor (Doctor Erazo 172), wie Originario, wo moderne Einrichtungsgegenstände so unerschrocken farbenfroh zusammengestellt sind, dass man nie wieder einen Gedanken an Beige verschwenden will (Colima 249b), wie Chic by Accident, dem Shop für die keineswegs versehentlich wundervollen Fundstücke von Emmanuel Picault (Orizaba 28). Mehr? Dann geht es in das Schokoladen-Atelier Casa Bosques, gleichzeitig ein Buchladen und eine schmucke Pension (Córdoba 25). Ein Erlebnis für die Sinne ist zudem der Besuch bei Xinú Perfumes, eine Marke die, apropos gestalterische Freiheit, von Héctor Esrawe mitbegründet wurde und unter anderem im Viertel Juárez im atemberaubend schönen Holzpavillon in grüner Oase ein Zuhause hat (Marsella 68).
In Juárez, dem Intellektuellenviertel der 1960er, das wie Roma, Condesa, und auch die Viertel Polanco und Coyoacán das künstlerische und kulinarische Revival ergriffen hat, hat sich ebenfalls das Soho House niedergelassen. Was nur Sinn macht, versteht sich der Members’ Club doch als Knotenpunkt für kreativen Austausch. Für die erste Location eines Houses in Lateinamerika hat man sich für einen historischen Stadtpalast entschieden – und ihn mit moderner Kunst befüllt. Die weltweite House-Kollektion umfasst mehr als 10 000 Werke; für Mexico City wurden rund 150 Arbeiten von Talenten zusammengestellt, die einen Bezug zur City haben. Im Interview spricht Chief Art Director Kate Bryan vom „reichen Erbe“ der Stadt, vom Gefühl, dass „Kunst hier Teil des Lebens ist, nicht in Museen wegsortiert wird“, was Kulturschaffende aus aller Welt anziehe und eine „starke zeitgenössische Szene“ unterfüttere. Ihre Auswahl für das Soho House hat sie gemeinsam mit aufstrebenden Galerien erarbeitet, aber auch mit etablierten Playern wie Kurimanzutto (Gobernador Rafael Rebollar 94) und OMR (Córdoba 100), und mit den Macher*innen der Zona Maco.
Einer meiner Lieblingstreffpunkte ist das Restaurant Contramar. Bestellen: tostadas de atún – sie verdienen den Hype.
Direlia Lazo, Artistic Director Zona Maco
Einmal pro Jahr versammeln sich unter diesem Namen vier individuelle Art Fairs, eine Plattform für die ungezwungene Durchmischung von Kunst, Design und Handwerk, die die „außerordentliche kulturelle Renaissance“ Mexico Citys widerspiegelt, wie Direlia Lazo es sagt (2025 findet die Messe vom 5. – 9. Februar statt, zsonamaco.com). Als Artistic Director der Zona Maco hebt Lazo besonders die kuratierten Sektionen „Ejes“ und „Sur“ aus dem kommenden Programm hervor, die sich um die Themen „freedom“ und „global south“ kreisen. Von diesen Herzstücken der Messe strömt man leicht weiter zu Galerien wie Casa Wabi Sabino des einflussreichen Künstlers Bosco Sodi, wo in der Zona Maco-Woche Ausstellungen von Marsica Fossati und Sergio Suárez eröffnen (Sabino 336).
Im Fluss von Erbe und Renaissance, die Kate Bryan und Direlia Lazo beschreiben, sollte man schließlich im Museo Casa Estudio Diego Rivera y Frida Kahlo andocken, der beeindruckende Schaffensort des prägenden Kunstpaares der Stadt, an dem man nicht vorbeikommt und das auch gar nicht will. Die Eindrücke eines Tages lassen sich direkt gegenüber des Museo in einem weiteren berühmten Haus bereden, dem San Ángel Inn, wo seit 1963 die Margarita so serviert wird, wie sie serviert werden sollte, mit vier Zutaten: Silver Tequila, Triple Sec, Limette, Salz (Diego Rivera 50). So endet der Tag, wie er begann, mit dem Klirren von Gläsern und dem Sound des Zusammenseins.