Psychologie: Wer nach diesem Wort lebt, lebt gesünder
Haben Sie schon einmal einen fremden Menschen angesehen – etwa eine*n Mitreisende*n im Zug oder vielleicht die Person, die in der Schlange vor Ihnen steht – und sich gefragt, wie sein oder ihr Leben aussieht? Welche Probleme sie haben, wen sie lieben, was sie nachts wachhält? Es ist so leicht, sich in der eigenen Welt zu verlieren, die eigenen Probleme als die dringlichsten, die eigene Geschichte als die lebendigste zu betrachten. Aber es gibt ein Wort für den Moment, in dem man erkennt, dass jeder einzelne Mensch, dem man begegnet, ein ebenso reiches und kompliziertes Leben hat wie man selbst: "Sonder". Wir erklären Ihnen, was genau das heißt und wie es zu einer gesünderen Lebenseinstellung verhelfen kann.
Wortherkunft und Definition: Das bedeutet "Sonder"
Natürlich ist es nicht so leicht, sein Leben mal eben durch ein einziges Wort um 180 Grad zu drehen und so nur noch glücklich zu sein. Wer sich "Sonder" jedoch immer wieder ins Gedächtnis ruft, kann seinen Blick auf die Welt grundlegend ändern und dadurch langfristig glücklicher und gesünder leben. Die Definition des Wortes macht klar, wieso:
"Sonder" ist eine Wortneuschöpfung des amerikanischen Autors John Koenig aus dem Jahr 2012, dessen Projekt "The Dictionary of Obscure Sorrows" darauf abzielt, neue Wörter für Emotionen zu finden, für die es derzeit keine Worte gibt. Inspiriert vom deutschen Wortstamm "sonder-" ("besonders") und dem französischen Wort "sonder" ("sondieren"), soll es die Erkenntnis beschreiben, dass jeder einzelne Mensch auf diesem Planeten ein eigenes Leben hat, das so lebendig und komplex ist wie das eigene. Der Barista, der Ihnen Kaffee serviert, die Künstlerin, die gerne Porträts zeichnet, oder die alte Dame, die im Park Tauben füttert – sie alle sind der*die Held*in in ihrer eigenen Geschichte.
"Sonder": Die stille Einsicht, die alles verändert
"Sonder" ist ein beinahe poetischer Begriff und nicht zu verwechseln mit bloßer Empathie. Es ist das plötzliche, demütige Bewusstsein, dass man nicht der Mittelpunkt des Universums ist. In unserer schnelllebigen Welt, in der wir oft an unseren Smartphones kleben und unsere Gedanken mit To-do-Listen vollgestopft sind, halten wir nur selten inne und nehmen die Menschen um uns herum wahr. Aber stellen Sie sich vor, wenn wir uns erlauben würden, nur eine Sekunde das Leben eines anderen Menschen zu betrachten. Das ist es, wozu uns "Sonder" einlädt. Und wenn man einmal anfängt, das zu bemerken, kann sich die Art und Weise, wie man die Welt sieht, für immer verändern.
Wenn wir beginnen, das Konzept von "Sonder" wirklich zu verstehen, geschieht etwas Wunderbares: Wir beginnen, auf eine viel tiefere Weise Empathie zu entwickeln. Es wird schwieriger, jemanden hart zu verurteilen, wenn man erkennt, dass sein oder ihr Verhalten nur eine winzige Momentaufnahme seines viel größeren Lebens ist. Wie oft sind wir sofort wütend, wenn uns jemand im Straßenverkehr den Weg abschneidet oder wenn eine Kassiererin oder ein Kassierer beim Kassieren abgelenkt scheint? Wir sehen diese Momente als Ärgernisse an, als Dinge, die uns angetan werden, aber "Sonder" lehrt uns innezuhalten und nachzudenken: Was passiert in der Welt dieser Person? Vielleicht rast der Fahrer oder die Fahrerin ins Krankenhaus. Vielleicht ist die Kassiererin oder der Kassierer besorgt, weil sie oder er diesen Monat die Miete nicht bezahlen kann. Vielleicht lastet auf dem Mitarbeiter, der Sie angeschnauzt hat, etwas Persönliches, das Sie nie erfahren werden.
Es ist dieser Perspektivwechsel, der uns näher an das Verständnis füreinander bringt. Wenn wir erkennen, dass die Geschichte eines jeden Menschen genauso komplex ist wie unsere eigene, öffnet das die Tür zu mehr Freundlichkeit. Wir hören auf, die Dinge persönlich zu nehmen und beginnen, die Menschen als das zu sehen, was sie sind: Mitreisende auf dieser unvorhersehbaren, oft herausfordernden Reise des Lebens. Und auch wenn wir die Probleme der anderen vielleicht nie ganz verstehen werden, kann allein die Tatsache, dass es sie gibt, dazu führen, dass wir in unseren täglichen Interaktionen mitfühlender sind.