Psychologie: Müssen Sie Ihre Geschwister mögen?

Entdecken Sie Einblicke von Geschwisterforscherin Dr. Inés Brock-Harder und erfahren Sie mehr über die Dynamiken zwischen Brüdern und Schwestern

Entdecken Sie Einblicke von Geschwisterforscherin Dr. Inés Brock-Harder und erfahren Sie mehr über die Dynamiken zwischen Brüdern und Schwestern

Anastasiia Sienotova / Getty Images,

Geschwister sind die längsten Begleiter unseres Lebens. Sie können Rivalen oder Bezugsperson sein. Ob uns die Beziehung zu ihnen wirklich so stark prägt, weiß Geschwisterforscherin Dr. Inés Brock-Harder. Sie ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Familientherapeutin. Sie bietet auch digitale Sitzungen an, um erwachsene Geschwister, die räumlich getrennt leben, wieder zusammenzubringen. 2020 erschien ihr Buch "Geschwister verstehen" im Reinhardt Verlag.

Drei Viertel aller Kinder in Deutschland wachsen mit mindestens einem Geschwisterkind auf. Damit hat der Anteil der Einzelkinder in Deutschland in den letzten 20 Jahren nicht zugenommen, wie eine Erhebung des Statistischen Bundesamtes zeigt. Eine Studie von CivicScience zeigt zudem: Je mehr Geschwister jemand hat, desto glücklicher ist er oder sie.

freundin: Wir haben alle eine Vorstellung davon, wer wir als Kind waren – und welche Rolle unsere Geschwister eingenommen haben: Der dominante Erstgeborene, das schwierige Sandwichkind, das verwöhnte Nesthäkchen. Was waren Sie? 

Dr. Inés Brock-Harder: "Ich bin die ältere von zwei Schwestern. Wir haben einen relativ großen Altersunterschied von sieben Jahren. Dadurch trifft auf uns ein stückweit das Klischee zu, dass ich als große Schwester, die Kleine etwas miterzogen habe, was sie wiederum nicht immer lustig fand. Grundsätzlich möchte ich diese Stereotype aber etwas relativieren."

Ist denn der Geburtenrangplatz nicht besonders wichtig für die Persönlichkeitsmerkmale? 

"In jeder Familie ist der Geburtsrangplatz individuell wichtig, aber das hängt immer stark von Faktoren wie Geschlecht, Altersabstand, der Erziehung und auch der Beziehung der Eltern ab. Es gibt zwar wissenschaftlich keinen Beleg dafür, doch es ist in der Beobachtung zum Beispiel definitiv so, dass die Ältesten eher die Vernünftigen und die Jüngeren die Springinsfelde sind."

Und die Sandwichkinder? Haben sie es wirklich so schwer, wie sie von sich behaupten? 

"Ich finde es lustig, dass viele Menschen – so wie Sie – in diesem Zusammenhang das Bild des Sandwiches hervorholen. Denn das Beste beim Sandwich ist doch in der Mitte! Aber nein, Mittelkinder haben es nicht schwieriger als Erstgeborene oder Nesthäkchen. Mittelkinder müssen sich in ihrer Entwicklung meist irgendwo zwischen ihren Eltern und den Geschwistern sortieren. Sie waren nie allein und haben eine Vielfalt an möglichen Beziehungsmodellen. Sie sind frei in ihrer Entscheidung: Mit wem verbünde ich mich? Für wen stehe ich ein? Dadurch haben sie oft sehr feine zwischenmenschliche Antennen und eine hohe Sozialkompetenz."

Warum haben Sie angefangen, sich mit Geschwisterforschung zu beschäftigen? 

"Es war auf jeden Fall nicht die Beziehung zu meiner Schwester, sondern meine vier Söhne. Aus eigenem Interesse habe ich mich mit der Mehrkindfamilie auseinandergesetzt – erst privat, dann wissenschaftlich."

Ich würde vielleicht sagen, ich war eine sehr bewusste Mutter. Aber auch bewusste Mütter können überlastet sein.

Dr. Inés Brock-Harder

Wie haben Sie Ihr Expertenwissen in die Erziehung Ihrer Kinder eingebracht?

"Meine Kinder werden sehr oft gefragt, ob ich anders bin als andere Mütter. Sie haben das immer verneint. Was wir vielleicht anders gemacht haben: Wir haben in regelmäßigen Familienkonferenzen, wo die Bedürfnisse von allen auf den Tisch gekommen sind, viel gemeinsam reflektiert. Ich würde vielleicht sagen, ich war eine sehr bewusste Mutter. Aber auch bewusste Mütter können überlastet sein. Als mein viertes Kind geboren war, war ich gerade 32 Jahre alt. Mein Ältester war damals sieben. Manchmal frage ich mich, wie ich das alles geschafft habe und noch in Teilzeit gearbeitet habe. Ich würde mir aber nie den Mutterorden anheften, nur weil ich mich wissenschaftlich damit befasst habe."

Heute wollen viele Paare ja diesen kurzen Abstand zwischen den Kindern, den auch ihre Söhne haben ...

"Ja, das ist auch gut. Laut Wissenschaft sind aber drei Jahre der ideale Abstand, weil da das erste Kind abgestillt ist, schon laufen kann, in die Kita geht und dadurch nicht mehr so eifersüchtig ist. Plus: Der Abstand ist noch nicht zu groß, dass das erste Kind mit der kleinen Schwester oder dem kleinen Bruder nichts anfangen kann."

Meine Schwester ist nur knapp zwei Jahre älter als ich. Wir sehen uns ziemlich ähnlich, haben früher alles zusammen gemacht, ticken aber in vielerlei Hinsicht völlig unterschiedlich. Wie können zwei Menschen mit dem gleichen Genmaterial so unterschiedlich sein? 

"Leibliche Geschwister haben 48 bis 53 Prozent identische Gene. Also könnte man annehmen, dass man sich zumindest zur Hälfte irgendwie ähnlich ist. Bei Ihnen beiden zeigt sich das möglicherweise auf äußerlicher Ebene. Unser Äußeres ist genetisch viel fixierter und festgelegter als unsere Persönlichkeit. Die können wir ja im Laufe der Zeit formen. Bei Geschwistern gibt es dann oft das sogenannte Nischenphänomen, das besagt, dass jedes neue Kind sich eine Nische sucht, in der es die autonome Aufmerksamkeit der Eltern bekommt und seine besonderen Talente entwickelt, um sich nicht immer mit den anderen vergleichen zu müssen. Wenn Kinder gemeinsam aufwachsen, werden sie also eher unterschiedlicher, weil sie ihre Besonderheiten verstärken."

Ist es für die Jüngeren schwieriger, ihre Rolle zu finden? 

"Nicht unbedingt. Wenn man zum Beispiel das einzige Mädchen unter vier Geschwistern ist, hat man schon ein naturgegebenes Alleinstellungsmerkmal. Aber ja, je jünger man ist und je mehr gleichgeschlechtliche Geschwister man hat, desto schwieriger ist es natürlich, seine Nische zu finden."

Es heißt immer wieder, der Einfluss von Geschwistern würde durch Bildungsstätten wie Kita und Co. abnehmen ... 

"Das stimmt nicht. Geschwister verbringen viel mehr Zeit miteinander als mit Kindern aus der Kita oder sogar auch mit ihren Eltern. Brüder und Schwestern haben einen ganz anderen Einfluss und einen anderen Umgang miteinander als die Peers aus der Kita. Sie prägen uns viel mehr."

Auf TikTok kursieren viele lustige Videos mit dem Titel "Ich würde meiner Schwester eine Niere spenden, aber wehe sie bekommt das größere Stück Kuchen".

"Oh, ja! (lacht). Hier geht es um diese Vergleichsprozesse, die ja tatsächlich bei der Größe des Kuchens anfangen und bei der Erbschaft aufhören. Das Gerechtigkeitsbedürfnis ist unter Geschwistern immer ein großes Thema. Aber wenn es existenziell wird, wie mit der Niere, ist die Verbindung wichtiger als alles andere. Das Verbindende wirkt immer stärker als das Trennende."

Gerade beim Thema Erbschaft hört man oft von üblen Streitigkeiten, die dann doch in vielen Familien ähnlich ablaufen. Müssen wir unsere Geschwister eigentlich mögen? 

"Natürlich nicht, aber, ob man will oder nicht, Geschwister bleiben ein Leben lang verbunden. Freunde kann man sich aussuchen, manchmal muss man sie austauschen. Geschwister bleiben."

Dieses berühmte unerklärliche Band zwischen Geschwistern gibt es wirklich!

Dr. Inés Brock-Harder

Auch wenn man sich so richtig verkracht? 

"Sogar dann. Selbst wenn Geschwister sich zerstreiten und jahrelang nicht miteinander sprechen, bleiben sie immer aneinandergebunden. Niemand sonst teilt die Erinnerungen aus der Kindheit. Neulich waren in meiner Geschwistertherapie zwei über sechzigjährige Schwestern, die sich übel zerstritten hatten und mit meiner Hilfe versucht haben, sich gegenseitig wieder mehr zuhören zu können und wieder einen gemeinsamen Nenner zu finden. Eine Geschwisterbeziehung kann sich im Laufe des Lebens extrem verändern. Als Kinder war man sich vielleicht sehr nah, dann entwickelt man sich weiter, weil man vielleicht umzieht, andere Berufswege geht, andere Freundeskreise oder einen neuen Partner hat. Später, wenn eigene Kinder ins Spiel kommen, nähert man sich durch Tanten und Onkelschaften wieder mehr an, weil man wieder in der gleichen Lebensphase ist oder vielleicht passiert es auch erst, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Egal, wie eng, man bleibt verbunden. Dieses berühmte unerklärliche Band zwischen Geschwistern gibt es wirklich!"

Sie meinen, auch wenn etwas Unverzeihliches passiert, kann das dieses Band nicht zerstören?

"Man kann natürlich den Kontakt abbrechen, aber im Inneren bleiben sie immer präsent. Das ist auch bei Halbgeschwistern so, die sich gar nicht gut kennen. Trotzdem gibt es da eine Verbindung, die eine Bedeutung hat, wie keine sonst. Deshalb kann man auch mit niemandem so gut streiten wie mit Geschwistern, weil man dieses Band nie riskiert. Und Wut oder Verletzung binden ja auch aneinander."

Wie können Eltern eine gute Geschwisterbeziehung von Anfang an unterstützen?

"So spät wie möglich eingreifen! Und natürlich so gerecht wie möglich agieren, aber das versuchen wir ja sowieso alle. Wechseln Sie sich in der Zuwendung ab, sodass jedes Kind von jedem Elternteil etwas bekommt. Und dann lassen Sie Ihre Kinder Geschwister sein. Das tut ihnen gut."

Text: Allegra Isert