Überlebende von Schießerei in Schule lassen sich dasselbe Tattoo stechen: “Wir sind nicht allein”

Am 1. Dezember 1997 starben bei einer Schießerei in der Heath High School in West Paducah, Kentucky, drei Menschen und fünf weitere wurden verletzt. Ein 14-jähriger Schüler hatte das Feuer auf eine Gruppe Schüler eröffnet, die auf dem Campus gerade am Beten waren. 22 Jahre nach dem tragischen Vorfall hofft eine der Überlebenden, Nikki Orazine, dass sie die Beziehung zu anderen Überlebenden der Schießerei in ihrem Ort und dem Rest des Landes mit einem besonderen Symbol stärken kann.

Orazine, die als Physiotherapeutin in Cookeville, Tennessee, arbeitet, sagt, dass die vergangenen zwei Jahrzehnte für sie und die anderen Überlebenden nicht einfach gewesen sind.

Und obwohl Schießereien in Schulen der Vereinigten Staaten eine lange, traurige Vergangenheit haben, kam es erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu Massenschießerein.

„Unsere Schießerei gehörte zu den ersten [Massen] Schießereien und das Schulpersonal wusste nicht, wie sie damit umgehen sollten, Therapeuten hatten sich zuvor nie mit dem Thema beschäftigt und es gab kein Selbsthilfebuch, das uns gesagt hat, wie wir mit dem Trauma umgehen sollen“, erzählt Orazine Yahoo Lifestyle. „Wir sind tatsächlich am nächsten Tag wieder zur Schule gegangen, standen im selben Flur, in dem drei unserer Klassenkameraden erschossen worden waren, und beteten – genau wie wir es getan hatten, als nur 24 Stunden zuvor die Schüsse fielen.“

Laut Orazine blieben sie und ihre Klassenkameraden 20 Jahre lang still und versuchten selbst herauszufinden, wie sie ihr Trauma verarbeiten, und mit den Panikattacken, Depressionen, Ängsten und Gedächtnisstörungen umgehen sollten, die danach einsetzten.

Heute sind wir dran!! Jedes Jahr der letzten 22 Jahre war anders. Manche waren besonders schwer, andere nicht so schwer, manche einfach. Aber in diesem Jahr... ein Tattoo! Ein Tattoo, das ich für Überlebende von Schießereien an Schulen im ganzen Land entworfen habe. Eine Gruppe, zu der niemand gehören möchte – aber ich bin so froh, dass es eine „Gruppe“ gibt, die so liebevoll und unterstützend ist wie unsere! Ich werde an diesem Wochenende an meine ganze Heath-Familie denken und für sie beten. #istillbelieveinheath #12/1/97 #foreverapirate

„Obwohl wir alle geschwiegen haben, haben wir im Geheimen viel über uns gelernt und wie wir mit unserer PTBS und den widersprüchlichen Emotionen umgehen müssen“, sagt Orazine.

„Jedes Jahr um dieselbe Zeit, wenn sich die Jahreszeiten ändern, konnte ich ein Muster feststellen. Ich fiel in ein tiefes, dunkles Loch, aus dem ich nicht herauskommen wollte“, teilt Orazine. „Selbst, wenn ich nicht bewusst an die Schießerei dachte, war es, als ob mein Körper sich daran erinnerte, und die furchtbaren Gefühle zurückbrachte, die ich während der Schießerei durchgemacht habe.“

Es dauerte bis zum 20. Jahrestag, bis sie und ihrer Mitschüler schließlich das Puzzle zusammensetzten.

„Zu unserem 20. Jahrestag organisierte eine unserer Klassenkameradinnen, die ihre Schwester bei der Schießerei verloren hatte, eine Gedenkveranstaltung wie wir sie an unserer High School gehabt hatten. Es gab eine Gedenkveranstaltung, an der die meisten unserer Klassenkameraden teilnahmen“, sagt Orazine. „Die Veranstaltung hatte etwas Magisches und Heilendes. Seit diesem Zeitpunkt haben wir in den letzten zwei Jahren endlich miteinander darüber gesprochen, was damals passiert war.“

Nach dem Wiedersehen fühlte sich Orazine inspiriert, ein Symbol zu schaffen, das diejenigen miteinander verbinden sollte, die von Gewalt an Schulen betroffen gewesen sind. Inspiriert vom Semikolon, dem Symbol, das Bewusstsein für Selbstmord schaffen soll, hatte Orazine die Idee, dass ein Symbol für Überlebende von Schießereien an Schulen ihnen helfen würde, sich nicht mehr allein zu fühlen.

„Ich habe mir vorgestellt, dass ich irgendwo weit weg von zu Hause im Urlaub bin, und jemanden mit demselben Tattoo sehe. Ich würde sofort wissen, warum sie es haben und sofort alles verstehen, was sie durchgemacht haben, obwohl ich sie nicht persönlich kenne“, erzählt Orazine Yahoo Lifestyle.

Schon bald begann sie damit, Ideen auf Papier kritzeln und Kontakt mit Überlebenden auf Facebook aufzunehmen, um nach ihrer Meinung zu fragen. Viele schlugen einen Phoenix vor – ein mythologisches Wesen, das aus der Asche aufsteht, und danach nur noch stärker ist. Orazine wollte ein einzigartiges Symbol schaffen, also fügte sie einige Details hinzu.

Das Endprodukt ist ein umgewandelter Phoenix mit einem Dreieck, die „stärkste geometrische Form, die es gibt“, und die Form eines Diamanten, der „unter Druck härter wird“. „Der Schwanz ist ein Unendlichkeitssymbol, das dafür stehen soll, dass immer weitere Überlebende dazukommen.

Um dabei zu helfen, das Symbol zu verbreiten, wandte sie sich an den Tattoo-Künstler Andrew Huckleberry, der seit vier Jahren bei Sacred Ink in Paducah, Kentucky, arbeitet.

“Es ist immer wichtig, dass jedes Tattoo so perfekt wie möglich ist, aber etwas, das so eine tiefe Bedeutung hat, macht mich ein wenig nervös“, erzählt Huckleberry Yahoo Lifestyle.

Er hat bereits zehn Menschen das Symbol tätowiert und zwei Termine stehen noch an. „Ich habe mich sehr geehrt gefühlt, dass mir so viele Menschen vertraut haben, dass ich das Tattoo bei ihnen stechen darf. Und da so viele der Überlebenden gemeinsam kamen, um sich tätowieren zu lassen, konnte ich wirklich gut sehen, dass das, was sie durchgemacht haben, sie als Gruppe enger zusammengebracht hat.“

Eine Gruppe ehemaliger Heath High School Schüler freundete sich außerdem mit einer Mutter an, die bei der Marshall County High School Schießerei eine Tochter verloren hatte, sagt Huckleberry.

„Es war beeindruckend Menschen miteinander lachen und lächeln zu sehen, die so eine furchtbare traumatische Erfahrung durchlebt haben.“

Daniel J. Mosley – ein Psychologe in Colorado und Washington, der seit über 20 Jahren für die Notfallseelsorge des Roten Kreuzes in den USA arbeitet, hat bereits Opfer vieler Katastrophen betreut. Dazu gehören die Schießereien in Columbine, dem Aurora-Kino und in Las Vegas. Er sagte gegenüber Yahoo Lifestyle, dass es eine gute Sache sein könne, sich mit anderen Überlebenden zu vernetzen. Es sei allerdings nicht das einzige, was bei der Genesung helfen kann.

“Ein extremer Vorfall, wie bei einer Schießerei in einer Schule dabei zu sein, oder ähnliche traumatische Erfahrungen erschüttern die Basis unseres Wohlbefindens, unser Sicherheitsgefühl und unsere Stabilität“, sagt Mosley. „Die Genesung dieses psychologischen Traumas, dieser Störung unseres Gefühls des Wohlbefindens, ist eine sehr individuelle Erfahrung und kann bei Menschen viele verschiedene Formen annehmen.“

Mosley fügt hinzu, dass jemand, der so einen Vorfall erlebt, bis ans Ende seines Lebens vorsichtiger sein könnte, aber hoffentlich irgendwann wieder Stabilität und Normalität erfahren kann.

“Wir müssen alle heilen, selbst wenn wir nur aus der Ferne von diesen Ereignissen lesen oder hören”, sagt Mosley. „Wir müssen alle heilen. Wenn wir das ignorieren, schadet es uns nur. So zu tun, als ob eine andere Schießerei an einer Schule nicht stattfinden wird, ist nicht ehrlich.“

Er fügt hinzu: „Die Menschen sollten wirklich zulassen, dass sie erschüttert, wütend, verstört oder ängstlich sind, wenn diese Dinge passieren. Sie müssen erkennen, dass diese Ereignisse destabilisierend sein können. Natürlich sind bei Menschen, die so etwas direkt erlebt haben, die Reaktionen intensiver. Sie müssen verstehen, dass sie heilen können und dass wir eine natürliche Widerstandsfähigkeit haben, auf die wir uns verlassen können, um wieder so etwas wie Stabilität und Normalität zu empfinden.“

Orazine hofft, dass andere Überlebende das Symbol auch annehmen werden. Ihres Wissens nach haben etwa 100 Menschen sich tätowieren lassen haben oder haben es noch vor. Noch mehr haben T-Shirts und Hoodies mit dem Symbol gekauft.

„Das Symbol soll Überlebende zusammenbringen, so dass wir wissen, dass wir nicht allein sind“, sagt Orazine. „Es ist eine sehr einsame Straße. Die meisten Menschen, mit denen wir im Alltag zu tun haben, wissen nicht, womit wir täglich zu kämpfen haben... Ich wünsche mir, dass das Symbol eine Erinnerung an die Liebe und die Unterstützung ist, die uns andere Überlebende im ganzen Land schenken.“

Hope Schreiber