Was wir uns gerade fragen: Wen soll man eigentlich wählen?
Eine Kommunikationsberaterin gibt Tipps, wie Sie trotz zerschlagener Regierung und kurzer Wahlkampfzeit die richtige Entscheidung treffen können
Getty Images, Amr Bo ShanabEine zerschlagene Regierung, ein sehr kurzer Wahlkampf, eine angespannte Weltlage: So viel Unsicherheit wie vor dieser Bundestagswahl herrschte selten. Wie wir trotzdem zu einer guten Entscheidung kommen – und warum das so wichtig ist, erklärt Kommunikationsberaterin Franzi von Kempis. Sie studierte Historikerin und ist gelernte Journalistin, war Managerin in einem DAX-Konzern, leitete schon zwei NGOs und ein Impfzentrum. Heute arbeitet sie als freie politische und strategische Kommunikationsberaterin und schreibt den Newsletter "Adé AfD".
frendin: Egal, wo ich gerade bin, höre ich: "Ich war noch nie so ratlos wie bei dieser Wahl!" Du bist Beraterin für politische Kommunikation, wirst du gerade besonders gebraucht?
Franzi von Kempis: Ich erlebe das ähnlich. Viele Leute sind frustriert und verunsichert. Kein Wunder: Es ist ein sehr kurzer Wahlkampf und die Kandidat*innen sind Personen, die nicht überraschen. Die einen haben sich gerade in einer Koalition auseinandergebügelt, der andere ist schon sehr lange für seine Ambitionen bekannt, eine KanzlerkandidatIN stellt nur die Partei der Rechtsradikalen auf. Dazu eine angespannte Weltlage. Da kann man schon fragen: Wo sind meine Hoffnungsträger*innen?
Was rätst du den Ratlosen?
Man muss sich vor allem zwei Dinge klar machen. Erstens: Wenn man aus dem Frustgefühl und der Ratlosigkeit raus und zu einer Überzeugung gelangen will, wird man nicht drumherumkommen, sich mit Parteien und ihren Themen zu beschäftigen. Dafür gibt es die Basics wie Wahlprogramme, den Wahl-o-Mat oder auch andere Tools, mit denen man sich informieren kann. Und natürlich kann man sich die Leute in TV-Sendungen, auf Social Media und bei Veranstaltungen vor Ort anschauen.
Entscheidend ist, dass wir die Kompromisse nicht bei unseren wichtigsten Werten und Themen im Leben machen.
Franzi von Kempis
Und was müssen wir uns als zweites klar machen?
Dass wir Kompromisse machen müssen! Klar gibt es die Leute, die überzeugt hinter einer Partei stehen, aber viele wählen auch aus dem Bauch heraus – oder strategisch, weil sie eine bestimmte Regierungskoalition unterstützen wollen. Es ist wie bei Stellenausschreibungen. Da dachte ich auch schon oft: Nur, wenn ich alle Bedingungen erfülle, passt der Job zu mir. Genau so fühlt es sich beim Parteiwählen an – aber ohne Kompromisse wird es nicht gehen. Entscheidend ist, dass wir die Kompromisse nicht bei unseren wichtigsten Werten und Themen im Leben machen. Die zu kennen, ist deshalb immer die Basis, um gute Entscheidungen treffen zu können. Viele sammeln Infos zu Kandidaten und Parteien und stülpen die sich dann über, dabei sollte es genau andersherum sein.
Wie finde ich denn meine wichtigsten Werte?
Ich fange damit an, dass ich mich frage: "Wenn ich nur auf mich schaue – auf mich, Franzi, Frau in diesem Land, die Bedürfnisse hat – was würde ich mir da wünschen? Wie möchte ich mich in diesem Land fühlen? Was wünsche ich mir für meine Familie, für meinen Freundeskreis?" Zu Beginn des Jahres beschäftigen sich ja viele mit Reflexionsfragen – vielleicht könnte man das ja mal politisch übersetzen. Zum Beispiel, indem wir es auf drei ganz konkrete Sachen herunterbrechen. Etwa: "Ich will eine gute, sichere Kinderbetreuung, ich will ein faires Leben für alle meine Freundinnen und meine Familie, egal woher sie kommen, und ich möchte, dass meine Kinder irgendwann in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, ohne sich kaputtzumachen." Wenn man sich so ein konkretes Bild macht, sucht es sich vielleicht leichter nach einem passenden politischen Gegenüber.
Und wenn ich nicht so konkret weiß, was ich will?
Dann kann man das negative Gedankenspiel machen – ich nenne das "Reverse Voting": Welche Partei will ich auf gar keinen Fall an der Macht haben? Und was kann ich dafür tun, dass das nicht klappt? Zum Beispiel: Wen wähle ich, anstatt frustriert nicht zu wählen, weil ich weiß, dass das die rechtsextreme Partei stärkt, die ich erst recht nicht haben will? Außerdem hilft es, sich noch mal bewusst zu machen, wie unser Wahlsystem eigentlich funktioniert.
Wie funktioniert denn unser Wahlsystem?
In Deutschland wählen wir mit der Erststimme die Person, die direkt für unseren Wahlkreis ins Parlament einzieht. Mit der Zweitstimme entscheiden wir, wie stark eine Partei im Bundestag vertreten ist, also wie viele Abgeordnete einer Partei zustehen. Vor lauter Fokus auf die Bundespolitik gerät die Erststimme gefühlt oft in Vergessenheit, dabei ist sie sehr hilfreich, gerade wenn man unsicher ist, weil man hier ganz klar auf Konkretes im eigenen Umfeld schauen kann. Man kann sich fragen: Was ist das für ein Mensch, der mich vertreten will? Wofür setzt sich diese Person ein? Was hat er oder sie vor meiner Haustür schon verändert? Auf Abgeordnetenwatch kann man zum Beispiel schauen, welche Abgeordneten auf welche Fragen geantwortet haben.
Viele sagen, dass eine Stimme für eine Partei, die garantiert nicht auf fünf Prozent kommt, verschenkt ist.
Da sind wir bei der Frage, ob es eine richtige Art zu wählen gibt. Ist es besser, aus Überzeugung zu wählen oder strategisch? Ich finde, es gibt keine verschwendete Stimme – außer wir wählen gar nicht. Es kann auch strategisch sein, eine kleine Partei zu wählen. Ich setze dann auf eine langfristige Wirkung, weil ich möchte, dass diese Parteien wachsen und die politische Landschaft sich verändert. Dagegen spricht, dass diese Stimme wahrscheinlich eher nicht dazu beitragen wird, dass eine Regierung gebildet wird. Ich glaube, das muss man sich bewusst machen und überlegen: Will ich das bei dieser Wahl?
Außerdem dürfen wir uns alle trauen, unsere Meinung zu sagen und die Meinung der anderen auszuhalten.
Franzi von Kempis
Als ich eine Zeit lang in Italien wohnte, hatte ich das Gefühl, dass die Leute dort viel offener sagten, welcher Partei sie nahestehen. Ist in Deutschland das Wahlgeheimnis heilig?
Ich kenne keine offiziellen Untersuchungen dazu, aber wir empfinden hier schon sehr vieles als sehr privat. Andererseits: Es braucht auch Mut zu sagen: Ich tendiere zu dieser Partei! Denn dann müssen wir Widersprüche aushalten. "DEN willst du wählen? DIE haben doch so viel Quatsch gemacht." Auch mich kostet das manchmal Überwindung, aber ich habe mir vorgenommen, es einfach trotzdem zu tun, und frage nun regelmäßig Menschen – im vertraulichen Rahmen natürlich: Was haltet ihr von welcher Partei? Selbst wenn am Ende sogar alle dasselbe wählen, sieht man, dass jeder anders auf die Parteien schaut. Jeder hat einen eigenen Twist für seine Wahl, eine eigene Begründung. Außerdem dürfen wir uns alle trauen, unsere Meinung zu sagen und die Meinung der anderen auszuhalten. Das kann man auch am besten bei Menschen üben, die man mag und bei denen man sich sicher fühlt. Oder man fragt die KI.
Wie kann die Künstliche Intelligenz da helfen?
Mit ihr kann man drauflos diskutieren, ohne mit einem echten Menschen in die Konfrontation gehen zu müssen. Man kann zum Beispiel Chat-GPT sagen: "Du bist Politiker*in dieser Partei, überzeug mich!" und dann dagegendiskutieren oder sich erklären lassen, was man einer*einem Rechtsextremenwähler*in entgegnen könnte. Wichtig ist nur, dass man die KI nicht als Suchmaschine verwendet. Sie ist kein Ersatz fürs eigene Lesen, weil es immer passieren kann, dass sie halluziniert und Unsinn rauskommt, und weil nur Sie selbst IHRE Gedanken und Meinungen aus einem Text ziehen können. Sie können zur Einstimmung fragen, "Was sind die größten Übereinstimmungen zwischen diesen drei Wahlprogrammen?", aber dann müssen Sie sich die Stellen selbst anschauen und entscheiden, ob Sie das auch als Übereinstimmung empfinden.
Eine Partei wie die AfD weiß, dass sie dieses Mal noch keinen Koalitionspartner findet. Die haben langfristige Pläne. Trump und Putin auch. Es wird auch an uns liegen, diese nicht wahr werden zu lassen.
Franzi von Kempis
Ich glaube, viele Menschen sind gerade auch deshalb so sensibel, weil sie das Gefühl haben, dass wir gerade vor einer Schicksalswahl stehen.
Ich verstehe das: Wir haben starke antidemokratische Kräfte, rechtsextreme Bewegungen sind auf dem Vormarsch. Ich persönlich schaue auch schon auf die Wahl in vier Jahren. Eine Partei wie die AfD weiß, dass sie dieses Mal noch keinen Koalitionspartner findet. Die haben langfristige Pläne. Trump und Putin auch. Es wird auch an uns liegen, diese nicht wahr werden zu lassen.
Wie schaust du auf diese Wahl?
Sie ist auch deshalb so bedeutsam, weil die Ampel-Regierung eine Wahlrechtsreform beschlossen hat, die vorsieht, dass das Parlament von 736 Sitzen auf 630 schrumpft. Es gibt also weniger Plätze – dadurch könnten zum Beispiel Frauen und junge Menschen noch stärker von den weniger existierenden, aussichtsreichen Listenplätzen verdrängt werden. Dazu kommt, dass viele Parteien mit weniger vielfältigen Listen antreten, dazu gehören die Union und die AfD. Plus: Schon in diesem Bundestagswahlkampf lassen sich Menschen gar nicht mehr aufstellen, weil sie und ihre Familien zu viel Hass und Hetze ausgesetzt sind. Das alles beunruhigt mich. Umso wichtiger finde ich es, sich beide Stimmen bewusst zu überlegen. Grundsätzlich einfach: Wählen zu gehen.
Übrigens: Bei der letzten Bundestagswahl im Jahr 2021 betrug die Wahlbeteiligung laut Wahlergebnis 76,6 Prozent. Eine Studie von Prof. Dr. Armin Schäfer von der Universität Mainz ergab: Je ärmer ein Wahlkreis oder ein Stadtteil, desto niedriger fällt die Wahlbeteiligung dort aus. Die höchste Wahlbeteiligung wurde 1972 mit 91,2 Prozent erreicht, die wenigsten Deutschen wählten im Jahr 2009 (70,8 Prozent).
Interview: Anke Helle