„Wissenschaft ist weiblich“: Lucia Sillig erklärt, warum wir mehr Frauen in der Forschung brauchen
Wir haben im Interview mit der Wissenschaftsjournalistin Lucia Sillig über die Bedeutung weiblicher Perspektiven in der Wissenschaft gesprochen
GraphicaArtis/Getty Images,Die Klitoris gibt es, seit Menschen existieren. Doch ist es noch keine 30 Jahre her, dass die Urologin Helen O’Connell sie zum ersten Mal vollständig beschrieben hat. Erst seit etwa zwei Jahren wissen wir, dass die Klitoris viel stärker innerviert ist, als man bisher dachte. Für viele Frauen hatte dieser Mangel an Wissen schwerwiegende medizinische Folgen: Während Ärzt*innen bei Prostata-Operationen die Nerven schonten, waren sie bei Beckenoperationen an Frauen weniger achtsam.
Dieses und 23 weitere wissenschaftliche Phänomene nimmt die Wissenschaftsjournalistin Lucia Sillig in ihrem neuen grafischen Essay unter die Lupe. In „Wissenschaft ist weiblich“ zeigt sie, dass viele wissenschaftliche Annahmen durch Vorurteile und tief verwurzelte Geschlechterstereotypen geprägt sind. Wir haben im Interview mit ihr über die Bedeutung weiblicher Perspektiven in der Wissenschaft gesprochen.
Warum die Wissenschaft weibliche Perspektiven braucht
Elle.de: Wissenschaft wurde jahrhundertelang von Männern und für Männer gemacht und ausgelegt. Welchen Schaden hat das angerichtet?
Lucia Sillig: Wir haben ein voreingenommenes Wissen geerbt, mit der Tendenz, die männliche Dominanz als unvermeidlich darzustellen und Ungleichheiten zu befürworten. Wenn Forschung mit solchen Scheuklappen betrieben wird, neigt sie nicht nur dazu, den Status quo zu rechtfertigen, sondern führt auch dazu, dass ganze Bereiche unzureichend erforscht oder sogar völlig ignoriert werden. Wir haben große Lücken in der Erforschung von Frauen, was in der Medizin besonders problematisch ist.
Heute finden sich deutlich mehr Frauen in der Wissenschaft. Was hat sich dadurch jetzt schon geändert?
Lucia Sillig: Ich denke, dass dies zum Zusammenbruch mehrerer alter, überholter Mythen beiträgt. Zum Beispiel die Vorstellung, dass Männer ein angeborenes Talent zum Parken von Autos und Frauen dazu haben, ihre Mitmenschen zu baden, genauso wie der Glaube, dass Testosteron eine Quelle von Gewalt ist und man nichts dagegen tun kann. Vor kurzem musste meine Tochter bei einem Test das weibliche Fortpflanzungssystem beschriften mit allen Bestandteilen der Klitoris. In der Archäologie wurde jetzt festgestellt, dass die Geschichte von männlichen Jägern und weiblichen Sammlerinnen nicht so viel mit der tatsächlichen Rollenverteilung der Höhlenmenschen zu tun hat, sondern mit den Rollenbildern des 19. Jahrhunderts, als die Erforschung der Vorgeschichte begann. Die Ankunft der Frauen in in dem Bereich der Primatologie hat den Fokus verlagert, der bis dahin hauptsächlich auf Männer gerichtet war. Neben all den aufregenden Erkenntnissen, die dies gebracht hat, hat es auch gezeigt, dass die männliche Dominanz beim Primaten bei genauerem Hinsehen weniger häufig ist, als es scheint.
Trotzdem sind es immer noch Männer, die die Nobelpreise gewinnen und den Ruhm einheimsen, während Frauen im Hintergrund agieren. Woran liegt das?
Lucia Sillig: Das alles ist langsam und träge, was mich deprimiert. Natürlich gibt es in der Wissenschaft mittlerweile einige Heldinnen, einige inspirierende weibliche Vorbilder, aber der Sektor spiegelt unsere Gesellschaft wider: Solange es in einem Bereich Geld und Macht gibt, wird die dominierende Gruppe die höchsten Ränge besetzen.
Was muss passieren, damit wir diese männlichen Strukturen in der Wissenschaft durchbrechen?
Lucia Sillig: Die Neurobiologin Gina Rippon schreibt in ihrem Buch „The Gendered Brain“, dass der Wunsch, das zu tun, was „Menschen wie wir“ tun, Mädchen von einer Karriere in der Wissenschaft abhält. Sie ziehen es vor, in Bereichen zu arbeiten, in denen „Menschen wie sie“ arbeiten, weil sie das als bequemer und weniger stressig einschätzen. Die Katze beißt sich in den eigenen Schwanz: Nur wenn es gleich viele Mädchen wie Jungen in naturwissenschaftlichen Bereichen gibt, wird es genauso viele Mädchen wie Jungen geben, die in diesen Bereichen studieren wollen. Wenn mein Buch ein paar junge (und auch nicht so junge!) Frauen inspirieren und ihnen zeigen könnte, dass Wissenschaft Spaß machen, aufregend und zugänglich sein kann, wäre das großartig.
„Wissenschaft ist nicht feministisch“ lautet der erste Satz ihres Buchs. Aber könnte Wissenschaft theoretisch feministisch sein? Und welche Rolle spielt Wissenschaft in unserem Kampf für Gleichberechtigung?
Lucia Sillig: Theoretisch ist die Wissenschaft weder feministisch noch grundsätzlich sexistisch. Aber wie wir schon festgestellt haben, ist sie nicht immun gegen Voreingenommenheit. Dennoch gibt es in der Masse an Ergebnissen und wissenschaftlichen Daten Elemente, die uns helfen können, Ungleichheiten besser zu verstehen und auszugleichen. Ich denke zum Beispiel an die Beobachtung von Bonobos – einer der beiden Arten, die uns am nächsten stehen – bei denen die Weibchen dominieren. Sie bewahren diese Macht dank der sehr starken Verbindungen, die sie untereinander pflegen. Ich finde, dass diese Beobachtung der Schwesternschaft noch mehr Gewicht verleiht.
Gerade werden reproduktive Rechte wieder mehr eingeschränkt und rechte Parteien bedienen sich gerne „naturgegebenen“ Geschlechterrollen. Welche Rolle spielt die Wissenschaft hierbei?
Lucia Sillig: In der „Natur“ gibt es alles: Katzenfische, die ihre Babys monatelang im Maul behalten, um sie zu beschützen oder Gottesanbeterinnen-Väter, die bei jedem Fortpflanzungsversuch ihren Kopf aufs Spiel setzen – aber seltsamerweise nennt niemand sie als Beispiel. Es gibt auch erzwungene Kopulationen, die für Weibchen tödlich sein können, wie manchmal bei Enten, oder Paarungen, bei denen die Zustimmung und sogar die Begeisterung beider Partner erforderlich ist, wie bei 97 Prozent der Vogelarten. Jede*r kann das Beispiel wählen, das ihm*ihr am besten passt. Aber das ist meiner Meinung nach nicht das Ziel. Die Wissenschaft muss uns helfen, die Welt um uns herum besser zu verstehen, uns selbst besser zu verstehen und dadurch besser zu leben. Aber es ist nicht ihre Aufgabe, uns vorzuschreiben, was unserer Meinung nach das Beste für uns ist.