„Alkohol ist ein Zellgift und für jeden Körper toxisch“ – Autorin Nathalie Stüben erklärt im Interview, warum Alkohol gerade für Frauen besonders schädlich ist
Das Glas Wein zum Feierabend, der Sektempfang bei besonderen Anlässen und die Flasche Gin als Mitbringsel aus dem Urlaub – Alkohol ist ein fester Bestandteil unseres Lebens. Als legale Droge hat er sich in unserem Alltag etabliert. Was wir dabei vergessen: 7,9 Millionen Menschen der 18- bis 64-Jährigen in Deutschland konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form und rutschen damit schneller in die Abhängigkeit als gedacht. Die Journalistin Nathalie Stüben war selbst betroffen, der Alkohol bestimmte irgendwann ihr Leben und sie beschloss ihn komplett aufzugeben. Zusammen mit dem Suchtmediziner Prof. Dr. Falk Kiefer hat sie nun ein Buch geschrieben, um über die Risiken des Alkoholkonsums aufzuklären. Im Interview erzählt sie, wie gefährlich die normalste Droge der Welt – vor allem für biologische Frauen – ist.
freundin: Was war das letzte alkoholische Getränk, das Sie getrunken haben? Und warum haben Sie dem Alkohol dann den Rücken gekehrt?
Nathalie Stüben: Ich weiß es nicht mehr, weil auch meine letzte Nacht mit Alkohol im Blackout endete. Wahrscheinlich war es Weißwein, Weißwein war mein Getränk. Aufgehört habe ich, als meine Trinkepisoden alle drei bis vier Tage mit einem Absturz endeten. Das war mein Suchtmuster. Ich habe angefangen zu trinken und dann war es, als würde sich ein Schalter umlegen in meinem Kopf: Ich konnte nicht mehr aufhören. Ich konnte mir vorgenommen haben, was auch immer ich wollte – ein, zwei Gläser Wein, dann war ich wie auf Alkohol programmiert. Dann habe ich nur noch überlegt: Jetzt habe ich das Glas Wein in der Hand, aber wie bekomme ich das nächste, wie das übernächste? Wie viel haben meine Freundinnen im Kühlschrank? Bekommen wir hier irgendwo in der Gegend die nächste Flasche? Das war das, was meinen Kopf beherrscht hat. Und dann habe ich getrunken, bis zum Blackout getrunken. Wobei das ja nicht bedeutet, du schläfst ein, sondern Blackout bedeutet erst mal, du tust irgendwelche Dinge, an die du dich am nächsten Tag nicht mehr erinnern kannst. Ich habe teilweise bis in die frühen Morgenstunden durchgetrunken und dann bin ich ins Bett gefallen – nicht immer in mein Bett.
Im Juli 2016 bin ich ein letztes Mal so aufgewacht und wusste: Ich muss es GANZ lassen. Damals machte mir das Angst, rückblickend betrachtet war das die beste Entscheidung meines Lebens.
Welche Rolle spielt Alkohol Ihrer Meinung nach in unserer Gesellschaft? Warum trinken wir und welchen Stellenwert hat er?
Er nimmt eine Sonderstellung ein, was Drogen betrifft. Falk Kiefer und ich haben in unserem Buch einen Vergleich mit Rauchen angestellt, um das zu verdeutlichen. In unserem Buch stehen Sätze wie: „Jugendliche sollten lernen, verantwortungsvoll zu rauchen.“ Oder „Ein bisschen Rauchen ist gesund.“ Oder „Rauchen steht für Genuss und Lebensqualität.“ Klingt absurd, oder? Können Sie auch gern mal mit Kokainziehen oder Kiffen ersetzen. Und dann setzen Sie mal Trinken ein. Das meine ich mit Sonderstellung. Und das ist auch das, was mich am allermeisten stört. Unsere Gesetze, unsere Kultur, unsere Vorbilder behandeln Alkohol wie ein Genussmittel, zum Teil sogar wie ein stinknormales Lebensmittel. Und das muss sich ändern.
Ich habe kein Interesse daran, Alkohol zu verbieten. Aber wieso muss er im Supermarkt zwischen Nudeln und Milch stehen? Warum darf sogar im Umfeld von Grundschulen dafür geworben werden? Warum darf Werbung ihn ohne jeglichen Warnhinweis mit Bildern von Leichtigkeit und Jugend und Zugehörigkeit verknüpfen und uns dadurch suggerieren, dass er unsere tiefsten Bedürfnisse erfüllt – obwohl gerade er so oft dafür verantwortlich ist, dass wir krank und einsam werden? Ich wünsche mir, dass Alkohol seine Sonderstellung verliert und unser gesellschaftlicher Blick auf diese Droge die Realität stärker mit einbezieht. All das Leid, den Schmerz, die Kosten, die Produktivitätsverluste, die Krankheit und die gesunkene Lebensqualität, die Alkohol verursacht, sollten Teil des Bildes sein.
Wie werden unsere jeweiligen Lebensabschnitte vom Alkohol geprägt?
In der Jugend formen sich Gewohnheiten und Vorlieben. Daher ist es besonders gefährlich, in dieser Lebensphase viel oder regelmäßig zu trinken. Wenn’s dann in den Job geht, kann Alkohol wie ein Mittel erscheinen, um Stress zu lindern. Vermeintlich, denn eigentlich stresst er uns zusätzlich. Schnell lindert der Drink lediglich den Stress, den er selbst verursacht. In den Wechseljahren hat Alkoholkonsum ebenfalls böse Folgen. Wechseljahressymptome ähneln sich mit Symptomen, die Alkoholkonsum verursacht: Einschlafstörungen und vor allem Durchschlafstörungen, Vergesslichkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Stimmungsschwankungen. Das Gemeine ist: Alkohol scheint da im ersten Moment zu helfen, weil seine kurzfristige Wirkung Linderung vorgaukelt. Aber er wirkt auch da wie ein Brandbeschleuniger, denn mittel- und langfristig verstärkt er alle diese Symptome.
Können Sie uns erklären, warum Alkohol schädlich für den Körper ist?
Alkohol ist ein Zellgift und für jeden Körper toxisch. Er zersetzt Schleimhäute und Hirnzellen. Er bringt unseren Hormonhaushalt ebenso durcheinander wie unsere Hirnchemie. Er stört den Schlaf, stört die Verdauung, stört so ziemlich alle gesunden Abläufe in unseren Körpern. Er macht uns unmotiviert und unkonzentriert, zieht Energie, fördert Stress, stört den Schlaf, stört die Verdauung, macht traurig, lässt die Haut altern, fördert Pickel und brüchige Nägel, ist eine Ursache für Bluthochdruck, Depressionen, Angststörungen, Demenz, Diabetes, Schlaganfälle, Herzinfarkte und alle möglichen Krebsarten. Wusste ich zum Beispiel lange nicht mit dem Krebs. Ich wusste vor allem aber auch lange nicht um diese krassen psychischen Auswirkungen.
Gibt es bestimmte gesundheitliche Risiken, die vor allem Frauen durch Alkoholkonsum stärker betreffen?
Für Frauenkörper ist Alkohol nochmal giftiger als für Männerkörper, weil Frauen Alkohol langsamer abbauen und im Vergleich zu Männern weniger Wasser und mehr Fett im Körper haben. Wenn sie trinken, ist das Gift im Vergleich also nochmal höher konzentriert und länger im Körper. Und bei Frauen schnellt das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken bereits bei moderatem Konsum in die Höhe. Das wissen viele aber gar nicht. Die Verbindung zwischen Alkoholkonsum und Krebserkrankungen ist in der Wissenschaft schon seit Jahrzehnten bekannt. Bereits vor über 30 Jahren gab es eine starke Evidenz dafür, dass Alkohol ein Karzinogen erster Klasse ist, also ein krebserregender Stoff höchster Risikostufe, der beim Menschen Krebs verursacht. Ich hoffe, dass dieses Wissen bald – ähnlich wie beim Rauchen – flächendeckend in den Köpfen ankommt.
Frauen spüren die psychischen und körperlichen Konsequenzen vom Alkoholkonsum schneller und stärker. In der Wissenschaft nennt sich das den Teleskop-Effekt. Aber auch die sozialen Konsequenzen bekommen wir schneller und heftiger zu spüren, zum Beispiel, wenn es um sexuelle Übergriffe und Alkohol geht – zum Beispiel, weil wir nicht mehr in der Lage sind, uns zu wehren, Nein zu sagen, unsere Grenzen zu wahren. Aber nicht nur. Ich zum Beispiel war irgendwann durchs Trinken so instabil, geschwächt und unsicher, dass ich mich oft nicht mehr getraut habe, meine Meinung zu vertreten oder mal Spannung auszuhalten. Ich war auch im Kopf einfach reduziert, weniger wach und nicht in der Lage zu erkennen, dass die Lösung nicht darin liegt, mich mit edlem Wein und rosa Drinks zu betäuben, es allen recht zu machen und schön unkompliziert zu sein, sondern darin, mich zu artikulieren, Ungerechtigkeit anzusprechen und für mich einzustehen.
Wenn ich alle zwei Wochen am Wochenende zwei, drei Gläser Wein trinke, einfach weil es mir schmeckt – ist das so schlimm? Gibt es Raum für moderaten Konsum?
Alkoholkonsum bewegt sich auf einem Kontinuum von relativ unproblematisch bis hin zu schwer abhängig. Am Anfang dieses Spektrums stehen Menschen wie mein Mann. Der trinkt im Grunde nichts, hin und wieder ein Glas Sekt auf einer Party, aber das wars. Er würde sich vorm Ausgehen niemals Gedanken darüber machen, ob es Sekt gibt. Er würde nicht auf die Idee kommen, ein zweites Glas zu trinken. Und wenn es auf der Party keinen Alkohol gäbe, würde es für ihn keine Rolle spielen. Alkohol hat für ihn den gedanklichen Stellenwert von Pfefferminztee: kann man mal machen, ist für sein Wohlbefinden aber unerheblich. Das sieht bei sehr vielen Menschen allerdings anders aus. Wer sich den ganzen Tag schon auf diese Party freut, weil es dann endlich Sekt gibt. Wer immer noch ein zweites oder drittes Glas trinkt. Wer enttäuscht ist, wenn es keinen Sekt gibt. Wer loszieht, um Sekt zu besorgen, weil eine Party ohne Sekt keine Party ist, der bewegt sich schon in deutlich problematischeren Bereichen dieses Spektrums.
Wir kennen es alle. Ist man selbst die Person auf einer Party oder Veranstaltung, die nicht trinkt, sind Bemerkungen vorprogrammiert. Wie reagiere ich am besten auf Sprüche wie „Ach, musst du fahren?“ oder „Warum trinkst du heute nicht“?
Ich finde es total legitim, sich vorher Ausreden zurechtzulegen, um keine blöden Diskussionen führen zu müssen. Sowas wie: Ich mache gerade eine Challenge: 30 Tage ohne Alkohol, will einfach mal sehen, wie es mir ohne geht. Ich nehme Medikamente. Ich will abnehmen. Ich möchte besser auf mich achten. Ich möchte morgen fit sein. Ich muss früh raus. Ich würde die Antwort ans Umfeld anpassen. In manchen Kreisen funktioniert das eine besser, in manchen das andere. Ein: „Nein, danke“ kann, überzeugend vorgetragen, natürlich auch schon reichen.
Wir haben gerade „Dry January“ hinter uns - Was halten Sie von dieser Bewegung?
Dry January, Dry July, Sober October oder auch die Fastenzeit sind schöne Gelegenheiten, um mal auszuprobieren, ohne Alkohol zu leben. Solche Aktionen bieten einen Grund und einen Rahmen. Das erleichtert es vielen, es auch durchzuziehen. Andere merken in solchen Phasen: Ach du meine Güte, es ist gerade einmal Mitte Januar und ich habe schon die erste Ausrede gefunden, um doch wieder zu trinken. Solche Erfahrungen können den letzten Anstoß bieten, um etwas Grundlegendes zu verändern.
Darüber hinaus sind Trends wie der Dry January auch Ausdruck einer interessanten Entwicklung, die sich gerade vollzieht. Keinen Alkohol zu trinken, wird salonfähig. Auch der öffentliche Diskurs verschiebt sich gerade. Noch vor ein paar Jahren dachte bei Gefahren in Zusammenhang mit Alkohol jeder an Sucht, vielleicht noch an Leberzirrhose. Nun kommt auch in den Redaktionen und in den Köpfen der Allgemeinbevölkerung an: Das sind nur zwei von rund 200 Krankheiten, die Alkoholkonsum verursacht oder fördert.
Warum setzen wir in Deutschland nichts an alkoholpolitischen Maßnahmen um, die die WHO empfiehlt? Woran fehlt es bei uns?
An politischem Willen. Die Alkohollobby in Deutschland ist reich, mächtig und extrem gut vernetzt. Welche Macht sie hat, ließ sich 2015 gut beobachten, als eine Arbeitsgruppe Maßnahmen vorbereiten sollte, mit denen der Staat den Alkoholkonsum der Bevölkerung reduzieren kann. Die Arbeitsgruppe kam bis heute zu keinem Ergebnis, weil die Lobby mehr Einfluss nehmen konnte als wissenschaftliche Expertise. Denn als es darum ging, WHO-Maßnahmen in Gesetze fließen zu lassen, machten Brauer, Spirituosenhersteller und Winzer mobil. Im Zuge dessen sprachen sich Tankstellenverbände, die Werbebranche und damit auch Zeitungsverleger beziehungsweise Medien, Sportvereine und allen voran der DFB zum Beispiel gegen Werbe- und Sponsoringverbote aus. Einer, der in dieser Arbeitsgruppe saß, sagte später: „Gegen DFB und Bild-Zeitung kann sich auch die stärkste Politikerin in Deutschland nicht durchsetzen.“ An diesen Mechanismen hat sich hierzulande bis heute nichts geändert. Deshalb gelten noch immer Gesetze, die zulasten unserer Gesundheit gehen und die wirtschaftlichen Interessen der Alkoholindustrie bedienen.
International gelten wir in Deutschland tatsächlich auch als Entwicklungsland, wenn es um unsere Alkoholpolitik geht. Jugendliche dürfen hier in Begleitung ihrer Eltern schon mit 14 trinken. Alkohol ist im Verhältnis zum Einkommen so billig wie nirgends sonst in Europa, wir können ihn 24/7 kaufen, an Automaten, sogar an Tankstellen! Das ist eigentlich völlig absurd. Rabattaktionen befeuern, dass Menschen mit einer Kiste Bier den Supermarkt verlassen, obwohl sie vielleicht nur zwei Flaschen kaufen wollten. In diesem Klima ist es kein Wunder, dass Millionen von Menschen problematisch trinken und noch nicht einmal wissen, wie sehr sie sich damit vergiften.