Experten( )Wissen: Diabetes: Wie kann man am besten vorbeugen?

Prof. Dr. Wolfgang Rathmann im exklusiven Interview

Laut einer kürzlich im Fachblatt The Lancet erschienenen Studie steigt die Zahl der Diabetes-Erkrankungen weltweit dramatisch. Schon 2050 könnten 1,3 Milliarden Menschen betroffen sein, wobei es sich bei den meisten Erkrankungen um den vermeidbaren Typ 2 handelt. Wie sich das Risiko minimieren lässt, erklärt Prof. Dr. Wolfgang Rathmann gegenüber Yahoo Life.

Frau spritzt sich Insulin in den Oberarm
Blutzuckermessen und Insulinspritzen gehören für viele Diabetiker zum Alltag. (Symbolfoto: Getty)

Bewegung ist wichtig - und die lässt sich in den Alltag einbauen

Yahoo Life: Welche Faktoren begünstigen eine Diabetes-Typ-2 Erkrankung?

Prof. Dr. Wolfgang Rathmann: Im Wesentlichen eine Kombination aus einer genetischen Prädisposition und einem ungesunden Lebensstil. Dazu zählen ganz klar Übergewicht und ein eingeschränktes Aktivitätsverhalten, wobei das ganz allgemeine Alltagsaktivitäten wie Treppensteigen, zu Fuß gehen, oder Gartenarbeiten beinhaltet. Der dritte Faktor ist Fehlernährung, und dann kommen noch weitere Dinge dazu: Rauchen erhöht das Risiko um das Doppelte und Alkohol indirekt über erhöhtes Körpergewicht. Zusammengefasst: Übergewicht mit geringer körperlicher Aktivität und genetischer Prädisposition verursacht letztlich den Typ-2 Diabetes. Das ist für die Prävention das Wichtigste.

Wie häufig ist die Krankheit denn in Deutschland?

Laut Daten der gesetzlichen Krankenkassen liegt die Zahl der Diabetes-Kranken tatsächlich bei 11 bis 12 Prozent der Erwachsenen in Deutschland. 95 Prozent davon haben einen Typ-2-Diabetes. 1960 gab es die ersten Daten zur Häufigkeit des Diabetes aus der damaligen DDR, das war grob gesagt ein Prozent. Das hieße im Klartext, dass sich die Diabeteshäufigkeit von 1960 bis heute verzehnfacht hat.

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Für das Jahr 2023 haben wir aufgrund verschiedener Datenquellen geschätzt, dass wir in Deutschland mindestens 8,9 Millionen Menschen mit Typ-2-Diabetes haben. Ein Kollege hat hochgerechnet, dass wir bis zum Jahr 2040 auf 11,5 Millionen Fälle kommen werden. Das sind schon recht große Belastungen. Es gibt aber auch gute Nachrichten: Im letzten Jahrzehnt war die Neuerkrankungsrate ebenso rückläufig wie die Mortalität. Der Treiber ist also vor allem die Alterung der Bevölkerung. Die Menschen werden älter und darum haben auch immer mehr Diabetes. In der Altersgruppe ab 80 ist es jeder Dritte.

Warum steigen die Zahlen so deutlich?

Im Wesentlichen gibt es seit 1960 drei Phasen. Von 1960 bis 1990 ist es zu einem Anstieg von 5 Prozent gekommen, dieser Bereich ist ganz eindeutig dem Lebensstil zuzuordnen. Bis Anfang der 2000er-Jahre gab es eine relativ stabile Häufigkeit, zwischen 5 und 6 Prozent. Und dieser gewaltige Anstieg auf 10 oder 11 Prozent beobachten wir erst seit Anfang 2000. Da spielt neben Lebensstilveränderungen die vermehrte Diagnostik eine Rolle. In den Neunzigerjahren gab es noch eine sehr hohe Dunkelziffer, die sich bis heute wahrscheinlich halbiert hat. Das liegt daran, dass Ärzte jetzt bewusster nach Patienten mit unentdecktem Diabetes suchen.

In welchem Alter wird der Typ 2 denn meistens entdeckt?

Das mittlere Alter bei Diagnose in Deutschland liegt bei Männern bei 61 Jahren, bei Frauen bei 63 Jahren. Dem geht aber ein längerer Entwicklungsprozess von bis zu zehn Jahren voran.

Was passiert bei einem Diabetes-Typ 2 im Körper?

In 80 Prozent ist der Typ-2-Diabetes durch Übergewicht gekennzeichnet. In Deutschland sind zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung übergewichtig, 20 Prozent sind adipös. Vereinfacht gesagt kommt es zunächst zu einer sogenannten Insulinresistenz. Die ist definiert als ein schlechtes Ansprechen der Körperzellen auf das körpereigene Insulinhormon, das dabei hilft, das Glukose aus der Blutbahn in die Zellen kommt.

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Die paradoxe Situation bei vielen Typ-2-Diabetespatienten ist, dass sie eine sehr hohe Insulindosis im Körper haben, teilweise doppelt so hoch wie normal, aber die körpereigenen Zellen reagieren nicht mehr so auf das Insulinhormon. Insulin dockt über Rezeptoren an den Zellen an, und es kommt möglicherweise zu einer Fehlfunktion oder einer Abnahme von Rezeptoren. Der Mensch hat also genug Energie und Insulin im Körper, aber er kann nicht auf diese Energie zurückgreifen, weil das Insulin die Zellen nicht öffnen kann.

Was macht die Krankheit so gefährlich?

Die Hauptkrankheitslast bei Diabetes ist die reduzierte Anzahl von gesunden Lebensjahren. Wir wissen, dass sich in den letzten Jahren die Begleiterkrankungen verändert haben. Durch eine bessere Prävention sterben heute nicht mehr so viele Diabetiker an kardiovaskulären Erkrankungen wie früher. Jetzt ist die häufigste Todesursache bei Menschen mit Diabetes eine Krebserkrankung. Wenn man die Prävention verbessern und die Zahl der Diabetes-Fälle reduzieren kann, gibt es auch Hinweise, dass sich dadurch die Krankheitslast durch Krebs reduzieren lässt. Der Link zwischen beidem: Adipositas führt sowohl zu einer Erhöhung des Diabetes-Risikos als auch zu Krebserkrankungen."

Entscheidend bei der Ernährung: viel Gemüse, gesunde Ballaststoffe, wenig tierische Produkte

Wie kann man die Prävention denn verbessern?

Die gute Nachricht ist: Randomisierte klinische Studien zur Prävention des Diabetes haben gezeigt, dass man durch eine Lebensstilintervention, die vor allen Dingen in gesteigerter körperlicher Aktivität bestand, viel bewirken kann. In Finnland haben alle Teilnehmer einer Studie eine Freikarte fürs Fitnessstudie bekommen. Und alle vier Wochen hat jemand nachgefragt, ob man auch hingegangen ist. Dadurch konnte man die Neuerkrankungsrate halbieren.

verschiedene Gemüse
Eine ausgewogene Ernährung mit viel Gemüse senkt das Diabetes-Risiko nachweislich. (Foto: Getty)

Es gibt auch aus Deutschland gute Nachrichten. 2014 und 2020 sind die Neuerkrankungsraten jährlich bei Frauen um 2,4 Prozent gesunken und 1,7 Prozent bei Männern. Wenn man das hochrechnet, hätte man in zehn Jahren bei Frauen 24 Prozent Senkung, bei Männern 17 Prozent. Die Senkung kann man durch ein verbessertes Ernährungsverhalten erklären. Wir wissen, dass sich das Risiko durch einen hohen Anteil an pflanzenbasierten, ballaststoffreichen und gleichzeitig wenig tierischen Nahrungsmitteln reduziert. Tatsächlich zeigt der aktuelle Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, dass die Deutschen einen gestiegenen Konsum von Gemüse haben. Das ist schonmal gut. Und der Konsum von Schweinefleisch ist auch deutlich zurückgegangen.

Inwiefern spielt gerade beim Diabetes-Typ-2 auch der soziale Faktor eine Rolle?

Wir sprechen von einem sozialen Gradienten zwischen denjenigen mit der höchsten und denjenigen mit der niedrigsten Schulbildung. Das unterteilt man meist in die drei Stufen hoch, mittel und niedrig. Dieser Gradient ist mit Faktor drei enorm hoch. Das heißt, Menschen mit niedriger Bildung haben ein dreifach erhöhtes Risiko, das ist vielleicht der wichtigste Risikofaktor im Hintergrund.

Schon gewusst? Wie wirksam ist die Zuckerbremse für Kinder-Lebensmittel?

In Deutschland rauchen immer noch 24 Prozent der Frauen und 34 Prozent der Männer ab 18 Jahren zumindest gelegentlich, das ist katastrophal viel. Dieser Anteil ist bei Menschen mit niedrigem Bildungsgradient viel höher. Alkohol spielt über die Zunahme der Adipositas auch eine Rolle. Auch hier ist der Konsum bei Menschen mit niedrigem Bildungsgrad höher. Die Politik sagt immer: Es ist wichtig das Verhalten zu modifizieren, am besten schon bei Kindern im Kindergarten oder der Grundschule. Auf Dauer werden wir die steigenden Zahlen aber nicht allein durch eine Verhaltensänderung senken können.

Wir werden das nur begrenzen können, wenn es ergänzende Verhältnisprävention gibt, da sind sich alle Experten einig. Das geht möglicherweise über politische Maßnahmen. Dadurch, dass man zum Beispiel ungesunde Lebensmittel besteuert. Die Engländer haben uns das vorgemacht. Oder dass man Anreize bildet, indem man versucht, Lebensmittel, die jetzt für viele unerreichbar teuer geworden sind, durch eine Preispolitik günstiger zu machen. Sodass Leute sich biologisch gesund ernähren können und gleichzeitig am Ende des Monats noch etwas im Portemonnaie haben. Dass Diabetes eine Erkrankung der weniger gut Gebildeten ist, kann man vielleicht teilweise durch solche Maßnahmen beeinflussen.

Diabetes ist nicht heilbar - und wird immer noch unterschätzt

Wird Diabetes im Vergleich mit anderen Krankheiten wie Krebs auch einfach unterschätzt?

Da spielt die Risikowahrnehmung eine große Rolle. Normale psychologische Mechanismen, die jeder Mensch braucht, um psychisch einigermaßen gesund zu bleiben. Wir haben einmal in einer Studie untersucht, wie gut Menschen ihr eigenes Diabetesrisiko einschätzen. Bei einem Zuckerbelastungstest hatten 5 Prozent schon Werte im diabetischen Bereich. Dann haben wir gefragt: Ist Diabetes für sie eine schwerwiegende Erkrankung? Diejenigen, die einen völlig normalen Wert hatten, haben zu 90 Prozent mit ja geantwortet. Diejenigen, die bereits einen Diabetes hatten, haben das nur zu 76 Prozent mit ja beantwortet. Für die war Diabetes also keine angstbesetzte Erkrankung.

Bärtiger Mann mit dickem Bauch
Adipositas ist einer der Hauptrisikofaktoren für Diabetes Typ 2. (Symbolfoto: Getty)

Wir haben auch gefragt, ob sie glauben, dass sie in den nächsten Jahren ein hohes Risiko haben, dass ein Diabetes entsteht. Zwei Drittel der Menschen mit Diabetes haben gesagt: Wir werden keinen Diabetes kriegen. Diese Fehleinschätzung ist mit ein Grund, warum die Leute mit Hochrisikofaktoren kein Interesse an Früherkennung und Prävention haben.

Nach englischen Daten können inzwischen zwei Drittel aller Krebserkrankungen in England geheilt werden. Das ist sehr viel. Der Diabtes-Typ-2 ist nicht heilbar. Nach aktuellen Zahlen aus Dänemark wird die Lebenserwartung um drei bis vier Jahre reduziert, wenn ab 60 Jahren ein Diabetes entdeckt wird. Wenn Sie überlegen, dass Onkologen tausende Euro für ein Medikament ausgeben, um die Lebenserwartung von einem Patienten vielleicht um ein halbes Jahr zu verlängern. Da muss man sagen, hat Diabetes einen Stellenwert, der weder bei Ärzten noch bei Betroffenen richtig erkannt wird.

Prof. Dr. Wolfgang Rathmann ist Experte für Diabetes-Erkrankungen. (Foto: privat)
Prof. Dr. Wolfgang Rathmann ist Experte für Diabetes-Erkrankungen. (Foto: privat)

Unser Experte: Prof. Dr. Wolfgang Rathmann MSPH (USA)

Dr. Wolfgang Rathmann ist apl. Professor für Epidemiologie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Er ist am Deutschen Diabetes-Zentrum tätig, wo er stellvertretender Direktor des Instituts für Biometrie und Epidemiologie und Leiter der Forschungsgruppe "Epidemiologie" ist. Zu den Forschungsschwerpunkten von Prof. Rathmann gehören Epidemiologie und Risikofaktoren des Typ-2-Diabetes. Er war Seniorautor der weltweit ersten Kohortenstudie, die einen Zusammenhang zwischen verkehrsbedingter Luftverschmutzung und dem Diabetesrisiko aufzeigte. Außerdem war der Experte der Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) Leiter einer Reihe von pharmakoepidemiologischen Studien mit dem Ziel, die Wirksamkeit und Sicherheit von blutglukosesenkenden Medikamenten zu untersuchen.

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