Wie Frauen in der Ukraine jetzt das Land am Laufen halten
Der Krieg in der Ukraine bedeutet auch, dass Männer, die vorher im Bergbau gearbeitet haben, jetzt an der Front kämpfen müssen. Doch die Kohle wird dringend gebraucht, um das Land am Laufen zu halten. Deshalb müssen jetzt die Frauen den Job unter Tage verrichten, was vor dem Krieg gesetzlich verboten war. Unser Reporterinnen-Team hat ukrainische Arbeiterinnen 708 Meter unter die Erde begleitet. Die Geschichte eines paradoxen feministischen Fortschritts.
Text: Morgane Bona
Fotos: Johanna Maria Fritz
Im Scheinwerferlicht des silbernen Hangars präsentiert Victor, 61 Jahre alt, davon 24 Jahre unter Tage, seinen neun Schülern das Biest, das sie zähmen sollen. Acht von neun sind Frauen. Das Gerät ist ein Kohleförderband: ein langer, schwarzer Teppich, gut zehn Meter lang, leicht nach innen gewölbt. Nah am Band und mit einem makellosen Helm auf dem Kopf, erklärt der Koloss im Bergarbeiterjargon: „Bevor ihr anfangt zu arbeiten, müsst ihr die Schalter zur richtigen Ausrichtung des Förderbandes überprüfen. Wenn alles am Platz ist, wenn alles funktioniert, beginnt ihr mit der Arbeit. Eure Aufgabe ist es, die Gesteinsmasse sicher zu transportieren. Habt ihr einen Unfall, stoppt das Band. Und hat das Band eine Panne…“ Bevor Victor seinen Satz beendet hat, nimmt ihm Olga, 48, eine seiner Schülerinnen, die Worte aus dem Mund: „...stoppt die ganze Arbeitskette.“ Der Lehrer nickt: „Die Arbeiter bleiben stehen und warten, bis das Band wieder anläuft. Alles ist miteinander verbunden. Jede Stunde, die das Band stoppt, kostet viel Geld. Keine Kohle, kein Gehalt.“ Eine alte Bergmannsdevise, die der Senior benutzt, um seine frischen Lehrlinge zu beeindrucken.
Es ist die zweite Gruppe, die sich überwiegend aus Frauen zusammensetzt und die Victor als Maschinenführer und Maschinenführerinnen am Kohleförderband ausbildet. Dieser Beruf, der im Untertagebau ausgeübt wird, war früher Männern vorbehalten. Doch heute mangelt es der Metinvest-Mine von Pokrowsk in der Oblast Donezk im Osten der Ukraine wie vielen Minen an Arbeitskräften: etwa tausend Arbeiter fehlen. Vor der russischen Invasion am 24. Februar 2022 waren hier 7.800 Leute beschäftigt, heute sind es nur noch 5.200. Etwas mehr als 15 Prozent der Belegschaft sind, ob freiwillig oder unfreiwillig, in die ukrainische Armee eingetreten.
Sie zu ersetzen, ist nicht einfach. Nur wenige Männer bewerben sich im Werk, weil sie sich im Laufe des Einstellungsverfahrens auch im Rekrutierungsbüro des Militärs melden müssen. Sie müssen damit rechnen, jederzeit eingezogen zu werden. Erst wenn sie ein festes Gehalt beziehen, gehören sie zu den 60 Prozent der Männer, die von der Einberufung ausgenommen sind, da die Mine als strategische Infrastruktur gilt. „Wir müssen diesen Bewerbermangel durch Frauen ausgleichen“, sagt Victor resigniert. „Sie haben ein finanzielles Interesse daran. Der Lohn für die Arbeit unter Tage ist bedeutend besser“, weiß er und reibt den Daumen gegen Mittel- und Zeigefinger, als würde er Banknoten zählen wollen.
Die Kohle als Garant der Unabhängigkeit
Eine Motivation, zu der die Älteste der Gruppe steht. Olga hat mehr als 30 Dienstjahre über Tage in einem anderen Bergwerk hinter sich und sieht sich großen finanziellen Schwierigkeiten ausgesetzt. Ihr Ehemann war ein Kumpel, der unter Tage arbeitete, er starb im Dezember 2023 an Magenkrebs. „Sein Tod hat nichts mit der Arbeit in der Grube zu tun“, betont sie. „Ich brauche jetzt mehr Geld, um überleben zu können“, gesteht die Witwe. „Hier zahlen sie mehr Lohn. Ich wurde durch einen Werbespot von Metinvest im Fernsehen darauf aufmerksam, dass sie weibliches Personal suchen. Das machte mich neugierig. Ich habe also dort angerufen und gefragt, ob sie auch Frauen meines Alters beschäftigen würden. Zwei Wochen später habe ich die Ausbildung begonnen.“
Olga liebt es, im Garten zu arbeiten und sich um ihre Erdbeerpflanzen zu kümmern. Niemals hätte sie sich vorstellen können, sich in die Eingeweide der Erde zu wagen. Die Erfahrung beunruhigt sie, „aber wir müssen es machen, da die Männer an der Front sind. Wäre mein Mann noch am Leben, hätte er mich das nie machen lassen. Er hätte mich vor schwerer Arbeit bewahrt, so wie er es immer tat.“
Die junge Generation betrachtet die Arbeit als Maschinenführerin unter Tage als Beweis ihrer Unabhängigkeit gegenüber dem männlichen Geschlecht. Die 20-jährige Nastja ist die Kleinste der Gruppe. Man würde sie mühelos für fünf bis sechs Jahre jünger schätzen. Die grau-rote Uniform in den Farben des Unternehmens, die sie trägt, ist ihr viel zu groß. Nach einem Jahr als Grundschullehrerin vollzieht sie derzeit einen radikalen Kurswechsel in ihrem Leben. Als Erstes hat sie ihre langen roten Haare abgeschnitten. „Wenn du unabhängig bist, kann dir niemand etwas“, sagt sie. „Die Arbeit in der Grube wird mir helfen, gelassener zu werden. Ich habe große Angst vor der Dunkelheit, und es ist mir wichtig, diese Angst zu überwinden.“
Trotz ihres schelmischen Lächelns und ihrer Jugend hat Nastja schon harte Zeiten erlebt. Mit zwölf verlor sie ihre Mutter, nachdem kurz vorher ihr 21-jähriger Halbbruder gestorben war. „Sein Tod hat Mama das Herz gebrochen“, sagt sie. Vor sechs Monaten starb ihr Vater, dann ihr Onkel. „Ich habe viele Angehörige verloren, habe schmerzhafte Dinge erlebt. Ich hatte deshalb schon vor dem Krieg das Ziel, möglichst unabhängig und der stärkste Mensch der Welt zu sein, damit es mir besser geht“, sagt Nastja. Sie hofft, sich mithilfe der Kohle, des schwarzen Goldes der Region Donezk, eine stählerne Seele schmieden zu können. Sie würde auch gern mit den patriarchalischen Klischees brechen, wie sie ihr vor ein paar Monaten in Gestalt eines Taxifahrers begegnet sind, der sie nach Hause bringen sollte. Während sie gerade ihre Bewerbungsunterlagen bei der Werksverwaltung abgegeben hatte, wunderte sich der gut 50-jährige Fahrer über die Beweggründe der angehenden Maschinenführerin: „Er schrie herum: ‚Die Mädchen werden jetzt verrückt, sie wollen in der Grube arbeiten‘“, erzählt sie. „Ich habe ihm entgegnet, dass Männer Frauen nicht herabsetzen dürfen, und wenn sie es täten, sie keine richtigen Männer seien. Ich hatte Glück, dass er mich nicht aus dem Taxi geworfen hat.“
Den eigenen Leuten um jeden Preis helfen
Nach jedem Unterrichtsmorgen kehrt Nastja zu ihrer 80-jährigen Großmutter Valentina und ihrer kleinen Schwester Katja zurück, die zu Hause auf sie warten. Die Frauen leben in einem etwa zwölf Kilometer entfernten Dorf, in einem kleinen, schmucken Häuschen mit grün gestrichenen Holzfenstern, umgeben von Rosen, für die Valentina eine Vorliebe hat. Während des Schuljahres studiert die 18-jährige Katja Medizin an einer Uni im Landesinneren. Trotz der prekären familiären Situation konnte die Jüngste kein Stipendium bekommen. Valentinas Rente von 4.200 Hrywnja, etwa 92 Euro, und Nastjas Lehrerinnengehalt von 5.000 Hrywnja, etwa 110 Euro, reichten nicht, um Katjas Studium zu finanzieren. Auch Valentina sah die Werbung, dass Frauen für die Arbeit als Maschinenführerin unter Tage gesucht werden, und schlug Nastja vor, sich zu bewerben, um mit dem Gehalt von fast 1.000 Euro ihre Schwester unterstützen zu können.
Die alte Dame hat ebenfalls sechs Jahre ihres Lebens, von 1979 bis 1985, in der Mine von Udatschne gearbeitet. Sie war verantwortlich für die Steuerung der Arbeiter und der Materialien, die nach unten und wieder nach oben fuhren. Es ist eine Familiendynastie: Schon Valentinas Vater, dessen Bruder, ihr Mann Leonid und ihre Söhne haben im Kohlebergbau geschuftet. Damals waren Frauen allerdings aus der Tiefe verbannt. Nach dem sowjetisch-ukrainischen Arbeitsgesetz, das im Juni 1972 in Kraft trat, war Frauen „die Arbeit unter schädlichen oder gefährlichen Bedingungen sowie unter Tage, mit Ausnahme nicht physischer, sanitärer oder hauswirtschaftlicher Betätigungen“ verboten.
Valentina sitzt in einem grau-weiß gestreiften Baumwollkleid unter dem Vordach ihres Hauses und erinnert sich: „Ich war neugierig und wollte wissen, wie es dort unten aussieht, wo ich die Jungs hinschickte. Ich habe mehrfach darum gebeten, runterfahren zu dürfen, um einen Blick hineinwerfen zu können. Eines Nachts erklärte sich der stellvertretende Vorarbeiter bereit, mich nach unten mitzunehmen. Es waren nicht viele Arbeiter da und dunkel war es auch nicht, überall war Licht, aber es war feucht, denn in den Tunneln gab es sehr viel Grundwasser.“
Die Großmutter sieht sich selbst nicht als Feministin, aber sie ist froh, dass das seit März 2022 geltende Kriegsrecht in Bezug auf die Organisation von Arbeit dem weiblichen Geschlecht erlaubt, Berufe „unter schädlichen oder gefährlichen Bedingungen sowie Arbeit unter Tage“ auszuüben. Valentina beteuert: „Frauen können alle Arten von Arbeit verrichten. Das ist kein Problem. Vorher waren sie in die zweite Reihe verbannt, jetzt stehen sie auf einer Stufe mit den Männern. Aber Grube bleibt Grube. Es ist ein gefährlicher Ort, an dem ich eher Männer als Frauen arbeiten sehe. Aber der Krieg ist leider der Grund dafür, dass auch Frauen unter Tage arbeiten.“
Frauen unter Tage – eine zyklische Geschichte
Es ist nicht das erste Mal, dass Frauen in Zeiten des Krieges in den Bergwerkstunneln der Donezker Region graben. Nach dem Rückzug der deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg von der linken Uferseite des Dnjepr waren 882 Zechen und 2.500 Kilometer Stollen zerstört oder überflutet. Im Oktober 1943 verabschiedeten die sowjetischen Behörden eine Resolution „zur Wiederherstellung der Kohleindustrie im Donbas“. Diese Maßnahme sah die Beschäftigung von Frauen im Bergwerk vor, da die Mehrzahl der Männer an der Front kämpfte. Rund 200.000 bis 250.000 Frauen waren während des Krieges und in der Nachkriegszeit unter Tage im Einsatz. Diese von der Geschichte vergessenen Arbeiterinnen schafften den Schutt aus den gesprengten Stollen weg, pumpten Wasser aus den überfluteten Tunneln und schreckten selbst nicht davor zurück, bis zur Taille im Wasser zu stehen. Sie haben die Grubenschächte und den Zugang zu den Flözen wieder freigelegt, die Abbaustellen für den Kohleabbau vorbereitet. 1966 wurden die Frauen schließlich erneut vom Untertagebau ausgeschlossen und man wies ihnen Leitungspositionen unter Tage zu, die als physisch angemessen galten: als Sicherheitsbeauftragte, Geometrikerinnen, Geologinnen, Vermessungstechnikerinnen und Ingenieurinnen.
Die 21-jährige Violetta ist eine von ihnen. Die Aufgabe der jungen Frau ist es, den Sauerstoff-, Kohlenmonoxid- sowie Methangehalt in den Tunneln zu kontrollieren. Sie überwacht außerdem die Einhaltung der Sicherheitsregeln durch die Arbeiter. Ihre Schicht beginnt um sechs Uhr morgens im Büro des Zechendirektors mit einer Bilanz des vorherigen Wachdienstes. Unter dem Spruchband „Arbeiter und Ingenieure, lasst uns die Arbeit sicherer machen“ berichtet er mit monotoner Stimme den sieben Untergebenen, darunter zwei Frauen, die sich bei ihm versammelt haben: „Es gab keine Verletzten, keinen Brand, aber wir mussten feststellen, dass einige die Regeln der Arbeitsdisziplin nicht befolgen.“ Violetta macht sich Notizen. Nach der Besprechung geht die junge Frau in Richtung Umkleideraum. Die Pfennigabsätze ihrer High Heels klackern auf dem Betonboden. Eilig zieht sie sich um und schnappt sich ihr Notfallbeatmungsgerät und ihre Lampe, die sie auf dem weißen Helm befestigt. Sie beschleunigt ihre Schritte, um sich in einen der zwei Aufzüge zu zwängen, der sie in 708 Meter Tiefe bringen wird. Während der Abwärtsfahrt wird das metallische Geräusch des Getriebes durch nichts gestört außer den Alarmton ihres Multigasdetektors, der den Abfall des Sauerstoffgehalts signalisiert. Auf der untersten Sohle angekommen, steigt sie in eines der Transportwägelchen, die sich durch die Tunnel schlängeln. Seit anderthalb Jahren fährt Violetta täglich zwischen 30 und 70 Gaskontrollpunkte ab. „Ich trage eine große Verantwortung“, sagt sie. „Die Zone, die man mir zugewiesen hat, ist sehr groß. Es kann passieren, dass der Methanpegel schlagartig steigt und sich konzentriert. Es kann dann zu einer Explosion kommen. Das Leben der Menschen hier hängt von mir ab“, sagt Violetta in einer Tunnelmulde. Ihre Mutter sortiert Kohle an der Erdoberfläche, eine im Bergbau als weiblich erachtete Aufgabe. „Meine Mutter respektiert meinen Wunsch, unter Tage zu arbeiten“, erklärt sie. „Sorgen macht sie sich trotzdem, denn sie ist davon überzeugt, dass dies kein Beruf für Frauen ist.“
Das nennt sich Feminismus
Dennoch stellt Violetta als Frau in den Bergwerksstollen keine Ausnahme dar. Heutzutage machen Frauen ein Drittel der Belegschaft aus, vor der russischen Invasion waren es nur ein Viertel. Die unterirdische Kohleförderung wurde verbessert und zahlreiche Aufgaben wurden automatisiert, um dem zunehmenden Frauenanteil im Beruf gerecht zu werden. Auf ihrem Rundgang begegnet Violetta mehreren Frauen, darunter der 29-jährigen Julia, der 37-jährigen Natalia und der 23-jährigen Anastasia. Julia ist Senior-Vorarbeiterin. Die Qualität der Kohle, die hier abgebaut wird, hängt teilweise von ihr ab: „Die Kohle ist sehr wertvoll, wir bekommen ein gutes Gehalt, zwischen 32.000 und 70.000 Hrywnja, das sind 700 bis 1.500 Euro. Sie gibt uns Arbeit, denn etwa 70 Prozent der Menschen in unserer Gegend arbeiten im Bergbau. Außerdem ist die Metallindustrie auf uns angewiesen.“
Tatsächlich wird der Stahl von Saporischschja und Krywyj Rih aus Kokskohle geschmiedet, die hier produziert wurde. Im Tunnel, in dem wir Julia begegnen, ist die Atmosphäre von schwebenden Kohlenstoffpartikeln gesättigt. Der schwarze Staub bedeckt das feuchte Gesicht der jungen Frau. Mithilfe eines Maßbandes kontrolliert sie die Abstände zwischen den Metallstützbögen, die von schweißgebadeten Arbeitern montiert wurden. Die Temperatur im Bauch der Erde kann bis zu 35 Grad betragen, sich in voller Montur hier zu bewegen, ist eine Herausforderung. Seit sechseinhalb Jahren läuft Julia täglich die Tunnel ab, um die Arbeit der Bergleute zu kontrollieren. Trotz des Protestes ihres Ehemanns. „Das nennt sich Feminismus“, scherzt sie. „Aber im Ernst, ich habe studiert, um diesen Beruf machen zu können. Wenn ich genügend Beitragsjahre für die Rente zusammenhabe, werde ich hier aufhören. Ich sehe die Spuren, die diese Arbeit an meinem Körper hinterlässt. Der viele Staub in den Tunneln ist schlecht für die Lunge. Vielleicht werde ich mich in Zukunft eher der Erziehung meiner Kinder widmen. Sie großzuziehen, ist mit den Arbeitszeiten in der Zeche kaum vereinbar.“
Konkurrenz zwischen Männern und Frauen bemerkt Julia unter Tage nicht. Im Gegenteil, die Männer seien ihr gegenüber oft ausgesprochen höflich. Ein paar Kilometer weiter, wo Arbeiter einen neuen Tunnel für den Erztransport graben, überwachen Natalia und Anastasia die Arbeitsabläufe. Natalia trägt scharlachroten Lippenstift, passend zu den Farben ihrer lackierten Fingernägel. „Bloß weil wir unter der Erde arbeiten, sollten wir keine ungepflegten Hände haben. Und wenn man in die Verwaltung muss, will man schön sein und sich wohlfühlen“, sagt sie. Falsche Wimpern und gepflegte Nägel sind keine Ausnahme bei den Frauen im Werk. Für Ukrainerinnen ist es wichtig, in jeder Situation Frau zu bleiben. Die Autorität Natalias, die einen reinen Männertrupp beaufsichtigt, ist so schnell nicht zu erschüttern. „Sie haben viel Erfahrung“, sagt sie. „Hin und wieder muss ich sie dennoch für ihre Arbeit loben, und manchmal gibt es auch Streit über irgendwas, aber alles in allem kommen wir gut klar.“
Anastasia erinnert sich an ihre ersten Schritte unter Tage und an die Reaktion der Grubenarbeiter: „Ich war 21 und einige von ihnen rieten mir: ‚Du bist noch jung, du sollst Kinder kriegen und nicht deine Gesundheit hier unten ruinieren.‘ Ich verstehe nicht, warum es sozial anerkannt ist, dass Männer in der Grube ihre Gesundheit ruinieren, und Frauen sollen es nicht.“ Die 23-Jährige war zunächst als Technikerin angestellt. Dafür ging sie sechs- bis zehnmal im Monat unter Tage. Im Januar 2024 suchte die geologische Abteilung jemanden für eine frei gewordene Stelle. Anastasia akzeptierte eine Versetzung, ohne damals zu verstehen, dass es bedeuten würde, täglich dort unten präsent zu sein. Manchmal sogar nachts, in den Stollen, die von Arbeitern gegraben werden, um den Untergrund zu begutachten. „Es geht immer mehr in die Tiefe. Dort ist es sehr viel wärmer und gefährlicher wegen der Explosionsgefahr. Unter Tage gibt es kein Tageslicht, keine Frischluft. Die Arbeitsbedingungen sind sehr viel härter. Ich muss viel laufen in den Tunneln, ich fühle mich müder als früher“, erklärt sie. Diese Beschwerlichkeit werde von den ukrainischen Behörden aber nicht anerkannt. „Sie ordnen den Beruf nicht als Untertagearbeit ein, deswegen wird sich das später auch nicht auf meiner Rente auswirken. Für die Anerkennung werde ich vor Gericht streiten müssen. Im Moment spüre ich zwar noch keine Auswirkungen auf meine Gesundheit, aber mein Arzt meint, dass die sich bemerkbar machen würden, wenn ich über 30 sei.“
Die Front verschlingt die Bergleute
Bei Schichtende beeilen sich die Bergleute, Männer wie Frauen, so schnell wie möglich wieder nach oben zu kommen. Die Kumpel ziehen ihre Werkskleidung aus und waschen den Kohlestaub von ihren Körpern ab. Dann malträtieren sie ihre Lungen weiter, indem sie sich eine Zigarette anstecken. In der Raucherecke der Mine halten sich überwiegend Männer auf, von denen einige noch schwarz umrandete Augen haben, als hätten sie Kajal aufgetragen. Die Bergarbeiter sind der Meinung: Frauen haben unter Tage nichts zu suchen. So auch Dmytro: „Es ist dreckig und staubig. Ich weiß nicht, was genau für Frauen geeignet wäre, aber definitiv nicht die Grube.“ Der 43-Jährige ist Hauer, er baut an vorderster Front Kohle ab. Täglich holt er das kostbare Erz aus den Venen der Erde in einem Teil der Mine, der Abbau genannt wird. Kaffee in der einen, Zigarette in der anderen, sagt er mit zittrigen Händen: „Zehn Jahre unter der Erde und sie sind am Arsch.“ Und weiter: „Ein Mann, der hier zehn Jahre schuftet, wird danach nie mehr richtig gesund sein. Ich wollte nur einige Monate hier arbeiten, daraus sind 14 Jahre geworden. Meine Frau war am Anfang dagegen, aber wir brauchten das Geld.“
Dmytro ist todtraurig. Der Krieg, der nur zwanzig Kilometer von Pokrowsk wütet, hat zahlreichen Verwandten das Leben gekostet. „Ich habe so viele Kollegen verloren, mit denen ich über die Jahre gearbeitet habe. Sie wurden gleich in den ersten Tagen der Invasion mobilisiert. Ein Teil von ihnen ist nicht mehr am Leben. Sie hatten Familie, Kinder. Es waren gute Leute.“ Seit Kriegsausbruch vor zweieinhalb Jahren starben 325 Beschäftigte des Bergwerkunternehmens, 1.200 Kumpel kämpfen derzeit gegen die russische Armee. Viele wurden über die Firma mobilisiert. Gleich am Tag nach der Invasion am 22. Februar 2022 hatte das Rekrutierungsbüro der Armee in Pokrowsk Namenslisten an die Direktion übermittelt, die über die sofortige Einberufung verfügten.
Yuriy tauschte vor mehr als zwei Jahren seine grau-rote Arbeitskluft gegen eine Tarnfleck-Uniform aus. Die Einberufung kam nicht überraschend für den 36-jährigen Bergmann, Vorarbeiter einer Gruppe von Hauern, die Kohle abbaute, schließlich hatte er 2006 seinen Militärdienst absolviert. „Die Geschäftsleitung hatte meinen Zugangscode deaktiviert, ich konnte nicht mehr in die Grube gehen. Man teilte mir mit, dass ich zu den 24 Einberufenen meiner Arbeitsbrigade von insgesamt 82 Personen zähle, also habe ich meine Sachen gepackt und mich im Militärbüro gemeldet, wie es jeder Mann machen würde.“ In der Infanterie ist Yuriy Hauptfeldwebel einer Einheit der 109. Territorialbrigade. Die 16 Jahre Erfahrung als Hauer im Bergwerk hätten ihm geholfen, an der Front moralisch durchzuhalten. „An der Front oder in der Grube, der Tod kann dich so oder so erwischen.“ Für ihn gehört die Grube der Vergangenheit an. Yuriy wird nicht mehr dorthin zurückkehren. Er leidet an einer schweren Lungenentzündung. Wie seine Ex-Kollegen ist der Soldat überzeugt davon, dass Frauen nicht unter Tage arbeiten sollten, sondern Kinder kriegen – und dafür müssten sie gesund sein. „Viele Menschen sind gestorben, wir müssen, wenn der Krieg vorbei ist, demografisch aufholen.“
Das Bergwerk ist ein Paradox. Die Arbeit unter Tage bietet Gemeinschaft, Stabilität und finanzielle Unabhängigkeit, wie sie sonst in der Region von Donezk kaum zu finden sind. Aber sie zehrt auf Dauer an der Gesundheit der Beschäftigten, ohne die die Kohle nicht aus der ukrainischen Erde geholt werden könnte – nur 20 Kilometer von der Front entfernt, wo die Soldaten für diese Erde kämpfen.