Wie Grunge Anfang der Neunziger zum letzten Mal Rockmusik groß gemacht hat
Ein halbes Jahr später war er tot: Kurt Cobain von Nirvana beim legendären Auftritt von MTV Unplugged.
Getty Images, Frank Micelotta ArchiveRockmusik ist, na ja, vielleicht nicht tot, aber hat lange Zeit keine Akzente mehr gesetzt. Das letzte Mal Anfang der Neunzigerjahre, als Grunge von Seattle aus die Welt erobert hat – allen voran mit ihren Aushängeschildern: Kurt Cobain und Nirvana. Wie es dazu kam und warum Grunge der Rockmusik zu neuer Größe verholfen hat, verraten wir in diesem Artikel.
Grunge war das letzte große Aufbäumen der Rockmusik
Nirvana, Pearl Jam, Soundgarden, Alice in Chains – die bedeutenden Grunge-Bands haben zeitlose Musik gemacht, die heute noch relevant ist.
Knapp 35 Jahre ist es her, dass Grunge aufkam und binnen weniger Wochen die Musikwelt auf links gezogen hat. Kaum zu glauben, wie schnell die Zeit vergeht und wie wenig Innovation das Rockgenre seither geliefert hat. Zumal man festhalten muss, dass die Zeit, in der Grunge wirklich relevant war und Maßstäbe gesetzt hat, gerade mal vier Jahre anhielt – nämlich von 1991 bis 1994.
Grunge: Warum ausgerechnet Seattle?
Und dann stellt sich natürlich auch die Frage: Warum wurde ausgerechnet Seattle zur Metropole des Grunge wurde und nicht etwa New York, Los Angeles oder Chicago? Nun, das hat natürlich verschiedene Gründe, insbesondere den, dass dort prägende Bands wie Alice in Chains und Soundgarden herkamen (Nirvana kamen indes aus Aberdeen, etwa 130 Kilometer von Seattle entfernt). Ansonsten muss man konstatieren: Die geografische Lage Seattles war eher, nun ja, unspektakulär. Die nächsten größeren Städte sind Portland (etwa eine Stunde von Seattle entfernt) und das kanadische Vancouver (drei Stunden entfernt). Viel Besonderes gibt es in der 700.000-Einwohner-Stadt ansonsten nicht, aber: Es gibt immerhin einen internationalen Flughafen, ein paar namhafte Firmen wie Microsoft, Boing und Starbucks.
Die Voraussetzungen, von Seattle aus die (Musik-)Welt zu verändern, waren also nicht größer als von jeder anderen US-amerikanischen Großstadt aus. Um zu verstehen, warum ausgerechnet Seattle zur Wiege des Grunge wurde, muss man daher ein bisschen ausholen.
Eddie Vedder von Pearl Jam bei einem Auftritt in Chicago im Jahr 1994.
Getty Images, Paul NatkinGrunge ist ja eine Spielart der Rockmusik, und die hielt in den Sechzigern in großem Stile Einzug in die Stadt. So spielten die Beatles 1964 in Seattle (das Hotelzimmer im Hotel Edgewater Inn wird nach wie vor mit Zuschlag vermietet), ein Jahr später die Rolling Stones. Eine Woche vor Woodstock fand 1969 das Seattle Pop Festival statt, mit dabei: Chuck Berry, Led Zeppelin, die Doors, die Byrds sowie Ike & Tina Turner. Und apropos Woodstock: Natürlich kommt auch eine der größten Rock-Ikonen aller Zeiten aus Seattle, nämlich Jimi Hendrix (der insgesamt allerdings „nur“ vier Konzerte in seiner Heimatstadt gibt).
Von Punk zu Grunge
Ende der Siebziger kam dann Punk auf, im Zuge dessen spielten auch die Ramones in der Stadt – und dieser Umstand hinterließ deutliche Spuren bei den Jugendlichen in Seattle. Denn während jeder und jedem klar war, dass es quasi unmöglich war, jemals den Status und das Können eines Jimi Hendrix zu erreichen, zeigten die Ramones den Jugendlichen: Auch mit einfachen Gitarrenriffs kann man auf Bühnen stehen und Rockstar werden. Entsprechend attraktiv wurde es für junge Menschen, sich mit Musik zu beschäftigen und sie fanden schnell Gleichgesinnte – so bildete sich das Fundament einer Subkultur, aus der Grunge überhaupt erst entstehen konnte.
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Vieles von dem, was zu Grunge führen sollte, war aber – wie das eben immer so ist – dem Zufall geschuldet: Einige Protagonist*innen lernten sich an der nahegelegenen University Of Washington kennen, darunter die Gründer des einflussreichen Grunge-Labels Sub Pop namens Jonathan Poneman und Bruce Pavitt sowie der spätere Soundgarden-Gitarrist Kim Thayil. Dann gab es mit Heart eine an Led Zeppelin erinnernde und ansatzweise erfolgreiche Band namens Heart, deren Tourmanager Kelly Curtis war. Dieser Kelly Kurtis lernte dadurch das Musikgeschäft kennen, was ihn dazu befähigte, später der Manager von Mother Love Bone, Alice in Chains und Pearl Jam zu werden. Heart-Gitarristin Nancy Wilson wiederum heiratete 1986 den Filmemacher Cameron Crowe, der unter anderem Jerry Maguire mit Tom Cruise gedreht hat, und der später mit Singles DEN Film zum Grunge-Phänomen – inklusive des entsprechenden Soundtracks mit Bands wie Alice in Chains, Pearl Jam, Mudhoney, Soundgarden & Co.
Wie Metal Grunge beeinflusst hat
Was zudem viele nicht wissen: Auch Metal war in Seattle und Umgebung eine große Nummer. Die Stadt brachte beispielsweise Queensryche hervor, aus dem nahegelegenen Aberdeen (der Heimatstadt von Kurt Cobain und Nirvana) stammen Metal Church. Seattle hatte immer schon ein Faible für harte Musik, auch große internationale Bands wie AC/DC und die Scorpions hatten nirgendwo in den USA so eine große Fangemeinde wie in Seattle. Zudem darf man nicht vergessen, dass Hardrock und Hair Metal mit Bands wie Guns N’ Roses, Poison und Mötley Crüe Ende der Achtziger das Interesse für harte Gitarrenmusik immens haben steigen lassen.
Was daher schlichtweg nicht stimmt, aber immer wieder im Zusammenhang mit Grunge postuliert wird, ist: Grunge sei über Nacht entstanden und durch die Decke gegangen. Das ist einfach nicht richtig. Denn es gab bereits ein Label wie C/Z, das Indie-Magazin Op und Radiosender wie Kaos. Soundgarden haben ihren ersten Plattenvertrag zudem bereits 1988 bekommen und auch Sub Pop wurde im selben Jahr gegründet – das Laben, auf dem dann Bands wie Mudhoney, Green River und auch Nirvana gesignt wurden. Was damals allerdings noch gefehlt hat: Niemand hat über die Bands und ihre Musik berichtet.
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Das ändert sich, als Sub Pop 1989 den Autoren Everett True vom Magazin Melody Maker aus dem Vereinigten Königreich einfliegen ließen, um über die Bands aus Seattle und Umgebung zu berichten. Aus einer Platteninfo der Band Green River übernahm True dann den Begriff Grunge (es hieß darin: „ultra loose grunge that destroyed the morals of a generation“) – und schon war ein neues Genre geboren.
Nirvana – die Superstars des Grunge
Mitte 1989 erschien dann Nirvanas DebütalbumBleach, fand allerdings noch kein großes Publikum – die Band spielte die dazugehörige Tour vor maximal 200 Fans. Den Durchbruch erlebte Grunge dann erst im Jahr 1991. Damals waren Guns N’ Roses und Metallica die größten Bands des Planeten, die zudem mit Metallica und Use your Illusion I & II jeweils legendäre Platten veröffentlichten, die diesen Status untermauerten. Aber: Auch drei Grunge-Bands veröffentlichten Alben, die die (Rock-)Musik nachhaltig veränderten: Soundgarden releasten Badmotorfinger, Pearl Jam Ten und Nirvana DAS Grunge-Album schlechthin: Nevermind. All diese Platten kamen innerhalb von 44 Tagen heraus. Danach war die Welt eine andere.
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Mit dem Erfolg von Soundgarden, Pearl Jam und Nirvana explodierte auch die Szene in Seattle. Der britische Journalist Mick Wall schrieb damals, dass es den Bands gelungen sei, Metal, Independent und Pop auf neue Art und Weise miteinander zu vermischen. Hinzu kam das veränderte Erscheinungsbild: Statt hochtoupierter Haare und Schminke ging es wieder zurück zum Schmutz, zur Wahrhaftigkeit – und zum Kern des Ganzen, der Musik. Die Vertreter*innen des Grunge sahen sich zudem nicht als Rockstars, sondern als Menschen wie alle anderen. Doch das wurde mit dem Erfolg der Bands zur Illusion; ein Umstand, an dem Kurt Cobain ein paar Jahre zerbrach.
Interessant ist, dass die Plattenfirmen zumindest anfangs keine große Unterscheidung zwischen den Bands aus dem Grunge- und dem Hardrock-Lager machten und sie gemeinsam auf Tour schickten: So spielten Alice In Chains den Support für Bands wie Megadeth und Van Halen, Soundgarden für Guns N´ Roses und Skid Row, Temple Of The Dog auf der Metal-Messe Foundations Forum in Los Angeles.
Grunge ging um die Welt
Auf die eingangs erwähnte Frage, warum Grunge ausgerechnet in Seattle passiert ist, hat der Sub-Pop-Gründer Jonathan Poneman mal gesagt, dass Grunge überall auf der Welt hätte entstehen können – und wahrscheinlich stimmt das auch. Aber auch die Zeit spielte den damaligen Bands in die Karten, die davon profitierten, dass MTV ihre Videos in die Rotation aufnahmen und Nirvana, Pearl Jam & Co. mit ihren Hits wie Smells like Teen Spirit und Alive in die Kinder-, Jugend- und Wohnzimmer der ganzen Welt gespült wurden. Dass in gerade dieser Zeit aber auch wirklich gute Platten und Songs herauskamen und viele Bands aus derselben Ecke stammten, war reiner Zufall. Als Nirvanas Smells like Teen Spirit erschien, war das der letzte Funken, der Grunge als Genre explodieren ließ.
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Zeitgleich hatten wichtige Grunge-Bands wie Soundgarden, Mother Love Bone und Alice In Chains gerade Plattenverträge mit Major Labels unterzeichnet, was ihnen ganz andere Möglichkeiten gab hinsichtlich Promo, Touring und Merchandise. Auch Nirvana hatten von Sub Pop zum Major Geffen gewechselt – für rückblickend läppische 72.000 Dollar. Immerhin: Es wurde zudem vereinbart, dass Sub Pop mit zwei Prozent an den Erlösen von Nevermind beteiligt wurde. Bei rund 30 Millionen verkaufter Platten kam da insgesamt eine ordentliche Summe zusammen. Zumal sich Warner im Jahr 1995 mit 49 Prozent an Sub Pop beteiligt hat – für stolze zwanzig Millionen Dollar.
Grunge is (not) dead
Insofern ereilte Grunge am Ende dasselbe Schicksal, das Punk kaputt gemacht (oder hierzulande die Neue Deutsche Welle): Er wurde vom Mainstream und dessen Mechanismen vereinnahmt und geschluckt. Spätestens als Nirvana mit Nevermind Michael Jackson und dessen Album Dangerous vom Platz 1 der Albumcharts kickten, war klar: Das war eine große Sache. In der Folge gab es plötzlich Grunge-Mode, Seattle wurde von Talentscouts überrollt und MTV stellte von einem Tag auf den anderen sein komplettes Programm um. Nur: Die Protagonisten der Szene selbst waren davon wenig begeistert. Das Perfide daran war ja: Je weniger sich diese – insbesondere Kurt Cobain – ins Rampenlicht drängten, umso größer wurden die Begehrlichkeiten. Und weil es für viele Musiker keinen Weg gab, dem Rummel zu entkommen, flüchteten sie sich in Parallelwelten, sprich: in die Drogen.
Alice in Chains, Mad Season, Hole, Soundgarden: Sie alle haben mit dem Einfluss von Drogen zu kämpfen gehabt – und mit dem dadurch evozierten Tod von Bandmitgliedern. Kristen Pfaff von Hole starb, John Baker Saunders von Mad Season und den Walkabouts auch, Chris Cornell von Soundgarden und den Temple of the Dog ebenso – und am 5. April 1994 eben auch Kurt Cobain.
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Die Musiker*innen kamen ja häufig aus einfachen, wenn nicht gar ärmlichen Verhältnissen, waren null auf ihre Prominenz vorbereitet. Es hat sie vollkommen unvorbereitet getroffen. Und gerade Kurt Cobain, der plötzlich als Idol und Role Model galt, konnte und wollte dem nicht gerecht werden. Im März 1994 überlebte Cobain noch knapp eine Überdosis Heroin, im April nahm er seinen Tod dann sprichwörtlich selbst in die Hand und erschoss sich mit einer Schrotflinte. Dem Erfolg von Grunge tat das aber erstmal keinen Abbruch, im Gegenteil: Alice in Chains schafften es mit ihrer Akustik-EP Jar of Flies an die Spitze der Charts, Soundgardens Superunknown wurde ihr erfolgreichstes Album und Peal Jams Vitalogy verkaufte sich ebenfalls wie geschnitten Brot.
Dennoch, oder gerade deswegen: Grunge steuerte da bereits seinem Ende entgegen, was vor allem an den vielen Nachahmer-Bands lag, die zwar mit einem vergleichbaren Soundbild daherkamen, mit den originären Bands aber nichts zu tun hatten wie Bush oder Candlebox, später natürlich auch Bands wie 3 Doors Down, Staind, Silverchair und Nickelback. Die einzige echte Grunge-Band, die den Grunge überlebt hat, war und ist Pearl Jam.
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Und so hat Grunge Anfang der Neunzigerjahre zwar ordentlich hell geleuchtet und alles überstrahlt, ist dann aber in sich selbst aufgegangen und ebenso schnell wieder erloschen, wie es gebrannt hat. Dennoch sind die Auswirkungen und die Einflüsse, die Grunge evoziert hat, natürlich bis heute noch zu spüren. Wie hat es Jack Endino, Seattles Produzentenlegende, der mit Größen wie Nirvana, Soundgarden und Mudhoney zusammengearbeitet hat, doch mal so schön ausgedrückt: „Es war wie ein Goldrausch; und die, die überlebt haben, sind froh, dabei gewesen zu sein.“