Ich habe ein Lieblingskind – darum habe ich deswegen kein schlechtes Gewissen
Neugeborene verlangen viel Fürsorge und die Tage der Eltern sind lang. Sie stillen rund um die Uhr, legen anhaltend „Nachtschichten“ ein und wechseln den Kleinen immer wieder aufs Neue die milchverschmierten Strampler. Offen gestanden gefällt mir dieser Abschnitt der Elternschaft am wenigsten. Nach der Geburt meines jüngsten Sohns war ich denkbar erpicht darauf, Zeit mit seinem älteren, damals vierjährigen Bruder zu verbringen.
Denn ältere Kinder sind in der Lage, sich zu unterhalten, sie essen selbstständig und gehen (meist) alleine auf die Toilette. Gemeinsam einen Film anschauen oder zu Mittag essen? Kein Problem. Und so bot mir die Zeit mit meinem Älteren eine willkommene Abwechslung von meiner Rolle als Milchmaschine. Mit Sicherheit war mein älterer Sohn zu dieser Zeit mein Liebling.
Mit zunehmendem Alter meiner Kinder verändert sich unser Verhältnis
Zwei Jahre später ist der einst hilflose Neugeborene ein freches und ebenso süßes Kleinkind. Damit hat sich das Blatt gewendet: Er ist jetzt mein Lieblingskind. Kürzlich wies er mich darauf hin, dass Papa seine Windel wechseln solle, denn ich hatte das ja zuletzt immer erledigt. Wenn ich niese, wünscht er mir „Gesundheit“. Beim Versteckspiel verliert der Kleine jedes Mal, denn er verrät seinen Standort, bevor man die Suche überhaupt beginnt.
Mein inzwischen Sechsjähriger hingegen kommandiert mich herum, etwa neulich auf meiner Geburtstagsfeier. Dabei erlitt er gewissermaßen einen Nervenzusammenbruch wegen des Partyspiels. Klar, dass ich lieber Zeit mit dem Jüngeren verbringe.
Aber mir ist klar, dass das Spiel mit den Favoriten dieses Mal gefährlicher ist. Anders als ein Neugeborenes, das die Welt um sich herum kaum wahrnimmt, ist mein älterer Sohn ein kleiner Mensch mit vollem Bewusstsein.
Mich plagt zwar kein schlechtes Gewissen, wenn ich bei Streitigkeiten seinem kleinen Bruder öfter recht gebe, wenn es darum geht. Allerdings ist mir durchaus bewusst, dass mein Ältester sich isoliert fühlt und eine Art Minderwertigkeitskomplex entwickelt.
Ich selbst war kein Lieblingskind
All dies ist mir so klar, weil ich das Gefühl kenne, als Kind hinten anzustehen. In meiner Jugend spürte ich oft, dass meine jüngere Schwester das Lieblingskind meiner Eltern war. Sie war niedlicher und lustiger und mit meinen Eltern pflegte sie Spitznamen und Insider-Witze, die sie nicht mit mir teilten. Sie nahm Gesangsunterricht und ging nach der Schule zum Sport – Dinge, die mir verwehrt blieben.
Oft habe ich mich gefragt, wie diese Dynamik zwischen meinen Eltern und mir zustande gekommen ist. Selbst möchte ich nicht, dass mein Ältester diese entmutigende Erfahrung machen muss. Manchmal spüre ich seine Enttäuschung und Frustration darüber, dass er glaubt, ständig überstimmt zu werden. Das schlägt sich manchmal in seinem Verhalten nieder. Mein Jüngster etwa geht eher Risiken ein und gerät oft in eine brenzlige Situation, aus der ich ihn befreien und danach knuddeln muss. Mein Ältester gibt dann oft vor, sich verletzt zu haben, um die Aufmerksamkeit von seinem Bruder auf sich zu lenken.
Solche Situationen erinnern mich daran, ihm meine Liebe zu zeigen. Zwar plagt mich kein schlechtes Gewissen über den Eindruck, ein Lieblingskind zu haben. Aber ich achte darauf, sie ausgewogen zu behandeln und beiden die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdienen.
Eine neue Phase bricht an
Es kann schwerfallen, einem Kind Liebe entgegenzubringen, wenn es nicht gehorcht. Andererseits ist es leicht, Liebe zu zeigen, wenn ein Kind niedlich ist und das Herz erwärmt. Jedoch ist mir klar, dass ich mich manchmal zusammenreißen und auf das große Ganze konzentrieren muss.
Gerne würde ich meinen Vierjährigen beim Schlafengehen als Gute-Nacht-Gruß so lange zu kitzeln, bis er sich vor Lachen krümmt. Aber wenn es Zeit ist, ins Bett zu gehen, deckt ihn mein Mann ein und ich gehe zu meinem Ältesten. Dann unterhalten wir uns über den Tag und ich beantworte alle seine brennenden Fragen über das Leben. Diese Momente erinnern mich daran, was ich an ihm so sehr liebe. Er besitzt seine ganz eigene Persönlichkeit. Mir ist es wirklich wichtig, dass ich mir während der Woche immer wieder Zeit für ihn nehme, um das zu würdigen – und ihn das spüren zu lassen.
Während mein Kleinkind langsam in die Zeit der Wutanfälle hineinwächst, schätze ich meinen Älteren mehr und mehr. So wie sich der Spieß einmal umgedreht hat, tut er es sicher bald wieder.
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