Singer-Songwriterin Victoria Canal: „Ich habe mich lange gefragt, ob man eine wie mich auf der Bühne sehen will.“
Schon die ersten Minuten des Gesprächs mit Victoria Canal sind gespickt mit Ausrufen von „oh my god!“ und „crazy!“. Sie bringen auf den Punkt, worauf die Singer-Songwriterin im letzten Jahr zurückblickt. Und auch, was kommt. Etwas ausführlicher: Die 26-Jährige mit amerikanisch-spanischen Wurzeln steht vor der Veröffentlichung ihres Debütalbums, auf das sie mit ihrer ersten Solo-Welttournee hingespielt hat. Die Arbeit daran begann aber genau genommen schon im Kindesalter, als Canal sich zum ersten Mal ans Klavier setzte. Auf den Gedanken, dass ihre Behinderung beim Musikmachen ein Defizit sein könnte, kam sie von sich aus nie. Man hört es ihrem versierten Gitarren- und Klavierspiel auch nicht an, dass sie aufgrund des Amniotisches-Band-Syndroms ohne rechten Unterarm und rechte Hand geboren wurde. Ein Thema ist es in ihren Songs dennoch: Sie schreibt davon, andersgliedrig zu sein, über Dysmorphophobie, Trauer und Queerness, in Balladen, die in ihrer Intensität an Billie Eilish und Phoebe Bridgers erinnern. „Slowly, It Dawns“ erweitert ihr Repertoire noch einmal, um sexy, gelösten und leichten Pop, mit einer Infusion von Drum’n’Bass-Beats. Das Album ist jetzt bei Parlophone erscheinen. Zum Gespräch erreicht man Canal per Videocall in London.
Harper's Bazaar: Victoria Canal, wenn man auf Ihr letztes Jahr schaut, steht dort: Ein Auftritt von 100.000 Menschen in Glastonbury mit Coldplay. Eine eigene Tournee. Ein Ivor Novello Award für den Song „Black Swan“. Jetzt kommt Ihr Debütalbum. Fangen wir mit Coldplay an. Wie kam es dazu?
Victoria Canal: Coldplay war schon immer meine Lieblingsband und Chris Martin mein Lieblings-Songschreiber. Als ich im College war, fakte ich als Aprilscherz mal ein „Rolling Stone“-Cover, mit einem Foto von mir und einer Überschrift, die in etwa lautete: Victoria Canal begeistert Chris Martin bei der Geburtstagsparty eines Clowns und geht für immer und immer mit Coldplay auf Tour. Absurd! Aber auch lustig. Ich postete das 2021 auf Social Media und das sah jemand aus Chris Team, der Chris wiederum eines meiner Musikvideos schickte. Und dann meldete er sich tatsächlich bei mir und fragte, ob ich Hilfe brauche, einen Plattenvertrag zu bekommen. So kam es, dass ich bei Parlophone unterschrieb. Er wurde zu einem sehr präsenten Mentor für mich. Als er mich fragte, ob ich „Paradise“ mit Coldplay in Glastonbury spielen würde, sagte ich natürlich sofort Ja.
Wie war das?
Der verrückteste Tag in meinem Leben! Was mich wirklich umhaute, war, dass ich erleben konnte, wie meine Lieblingsband funktioniert. Zu sehen, wie freundlich und respektvoll sie miteinander sind. Das war sehr inspirierend.
Früher haben Sie, wie Sie selbst einmal sagten, Coldplay-Cover vor drei Leuten in Restaurants gespielt. Da klingt es nochmal mehr nach einem Traum, der in Erfüllung geht, mit der Band die Bühne zu teilen. Wie fing das mit der Musik für Sie an?
Ich weiß, dass ich Musik machen will, seit ich vier Jahre alt bin.
So jung?
Ja. Da saß ich zum ersten Mal mit meiner Großmutter am Klavier. Sie war Klavierlehrerin. Ich hatte sofort diesen Hang zum Spielen und Singen. Ich war wie besessen. Ab da gab es nie eine andere Option. Ich kann es nicht anders erklären als ein mir innewohnendes Bedürfnis, Musik zu machen und darüber Verbindungen zu schaffen.
Einer Berufung, wie Sie es beschreiben, nachzugehen, verlangt nach einer Unbeirrbarkeit. Aber so leicht ist das vermutlich nicht.
Als ich aufwuchs, sah ich niemanden wie mich in den Medien, oder wenn, dann nur als Witzfigur, als Mitleidsgeschichte, als Bösewicht. Ich habe mich jahrelang gefragt, ob man eine wie mich, einen Menschen, dessen Gliedmaßen anders aussehen, auf der Bühne sehen will.
Wie dachte Ihre Familie über Ihre Pläne?
Die hat mich glücklicherweise immer unterstützt und ermutigt. Aber dann gab und gibt es die, die sagen „Viel Glück, Schätzchen“ – und trotzdem nicht daran glauben, dass du es schaffen kannst. Die größte Herausforderung ist, sich von all den verschiedenen Stimmen und Meinungen nicht überwältigen zu lassen. Nicht von denen, die es nur gut mit dir meinen und auch nicht von denen, die alles besser wissen als du. Ich denke da an die Männer, und es sind vorwiegend Männer in dieser Industrie, mit einem allumfassenden Selbstverständnis der eigenen Autorität und Überlegenheit. Doch nur weil man eine Frau und jung ist, bedeutet das nicht, dass man nicht weiß, was für einen richtig ist. Meine wichtigste Erkenntnis ist also vielleicht, wirklich zu praktizieren, was für mich am besten ist, basierend auf meiner inneren Stimme.
Ich will mich nicht reduzieren lassen. Jeder Mensch ist vollständig und andere zu schmälern, das macht für mich keinen Sinn.
Victoria Canal
Was hilft?
Stetes, stetes, stetes Schreiben.
Songschreiben?
Nein, Journaling, also Tagebuch schreiben. Ich mache das jeden Tag ein paar Stunden lang.
Was schreiben Sie da auf?
Niemand wird je erfahren, was in meinem Tagebuch steht. Das ist genau der Punkt. Wenn so viel vom Leben Performance ist, die die Meinungen und Ansichten anderer Menschen erfordert, tut es gut, einen Ort zu haben, der nur dir gehört. Meine Familie zog oft um als ich Kind war, ich habe in, keine Ahnung, acht Ländern gelebt und viele verschiedene Schulen besucht. Ich habe mich nie an einem Ort verwurzelt gefühlt. Das Tagebuch erdet mich.
Die Tagebücher mögen privat sein, aber Sie sind ansonsten außergewöhnlich offen in Ihrer Kommunikation. Vor Ihrem Tourstart teilten Sie beispielsweise mit Ihren Fans Ihre Verunsicherung darüber, ob Sie den Erwartungen gerecht werden würden. Beschäftigt Sie, wie verletzlich Sie sich mit dieser Offenheit machen?
Ich denke manchmal schon, dass ich besonders online nicht genug Grenzen setze und dass es weiser wäre, weniger zu teilen. Es ist ein Lernprozess. Was teile ich, weil ich spüren will, dass ich nicht allein bin und helfe damit auch anderen, und was kann ich emotional verdauen, allein und ohne mich an jemanden anzulehnen? Ich glaube, es ist ein schmaler Grat zwischen: Aus Selbstschutz agieren oder aus Angst. Ich stehe auf der Seite von: Offenheit anstreben und darauf vertrauen, dass der Kontakt mit meinen Fans eine positive Sache ist.
Für Ihre Fans verkörpern Sie das, wonach Sie sich früher selbst sehnten: Ein Vorbild. Wie geht es Ihnen mit dieser Rolle?
Wie stark oder wie wenig würdige ich meine Behinderung? Wie stark oder wie wenig veröffentliche ich Musik, die eine Vorbildfunktion hat oder einfach nur expressiv ist? Lebe ich aus dem, was ich will oder was andere von mir wollen? Konstante Fragen. Alles, was ich versuchen kann, ist authentisch zu sein und mich weiterzuentwickeln, und mir auch dafür zu vergeben, dass ich mal eine andere war.
Wie meinen Sie das?
Ich habe in der Vergangenheit viel über meine mentale Gesundheit gesprochen, meine Sexualität und so weiter. Und dann kamen diese Klatschblätter raus mit der Tom Cruise-Geschichte …
… Nachdem Sie Cruise in Glastonbury kennengelernt hatten.
… mit Überschriften wie: Tom Cruises angebliche neue Freundin ist eine psychisch kranke, behinderte, queere Person mit Dysmorphophobie. Ein Label nach dem anderen, alle aufs Übertriebenste negativ konnotiert. Nie ging es um all das an mir, was fröhlich ist. Es ist frustrierend auf „Das Mädchen mit nur einem Arm“ reduziert zu werden, darüber habe ich auch schon gesprochen, aber ich würde das heute ergänzen: Es ist nicht mal das „ein Arm“, was mich stört. Ich will mich generell nicht reduzieren lassen. Jeder Mensch ist vollständig und andere zu schmälern, das macht für mich keinen Sinn.
War es Ihnen auch deshalb wichtig, auf Ihrem Album „Slowly, It Dawns“ viele musikalische Facetten zu zeigen?
Trauer, Verlust, Identität, Perfektionismus, mentale Gesundheit, darum wird es in meiner Musik auch weiterhin gehen, aber ich hatte einfach Lust, Spaß zu haben, wie in Songs wie „California Sober“ oder „June Baby“. „Cake“ wiederum ist herrlich düster. Ich will alles erforschen. Manchmal denke ich, der Druck ist unangemessen hoch, weil es mein erstes Album ist. Aber je mehr ich mich auf mich besinne, desto weniger Last spüre ich. Das macht die ganze Reise umso schöner.