Die sowjetische Geisterstadt mitten in der Arktis
Eine vergessene Siedlung am Ende der Welt
Mitten in der Ödnis der arktischen Tundra liegt die ehemalige kommunistische Kohlebergbausiedlung Pyramiden, die nach einer verheerenden Tragödie vor über zwei Jahrzehnten scheinbar über Nacht aufgegeben wurde. Hier machen wir mit Ihnen einen Rundgang durch die Ruinen der einst blühenden Stadt, erzählen ihre faszinierende Geschichte und verraten, warum die utopische Siedlung so plötzlich kollabierte.
Adaptiert von Ute Eberle
Reise in die Vergangenheit
Die Anreise mit der Fähre von der spitzbergischen Hauptstadt Longyearbyen fühlt sich an wie eine Fahrt in die Vergangenheit. Sobald man am trostlosen Pier der Geisterstadt anlegt, beschleicht einen fast unvermeidlich ein mulmiges Gefühl.
Spitzbergen gehört seit dem gleichnamigen Spitzbergen-Vertrag von 1920 zu Norwegen, aber die anderen Unterzeichnerstaaten, darunter Schweden und Russland (die UdSSR wurde erst 1922 gegründet), erhielten das Recht Bergbau in der Region zu betreiben.
Auf Kohle gebaut
Schweden hatte hier bereits seit 1910 Kohlestätten erkundet und die an einem vielversprechenden Platz liegende Stadt nach dem pyramidenförmigen Berg im Hintergrund benannt. 1927 verkaufte Schweden sie an die Sowjets. Drei Jahre später wurde Pyramiden der staatlichen Gesellschaft Arktikugol („Arktische Kohle“) unterstellt. Doch erst Mitte der 1950er-Jahre begann der Abbau im großen Stil.
Das Kraftwerk
Unmittelbar östlich des Hafens liegt das Kohlekraftwerk, das die Stadt mit Strom und Wärme versorgte. Insgesamt verbrannte es dafür eine Million Tonnen des schadstoffreichen fossilen Brennstoffs.
Nebenan befindet sich ein Lagerhaus, eines von mehreren in dem abgelegenen Städtchen. Hier wurde die geförderte Kohle gelagert – man sagt, dass insgesamt neun Millionen Tonnen des Rohstoffs in Pyramiden abgebaut wurden.
Das Willkommensschild
Fahren wir nun nach Westen in die eigentliche Stadt hinein, entlang der Hauptstraße mit dem flotten Namen „Straße des 60-jährigen Jubiläums des Großen Oktobers“.
Ein Willkommensschild und eine Skulptur aus ausgemusterten roten Wasserrohren des Bergwerks markieren die offizielle Stadtgrenze. Davor steht zum Gedenken ein Förderwagen, der mit der letzten Tonne Kohle gefüllt ist, die am 31. März 1998 in Pyramiden gefördert wurde.
Permafrostbeständige Bauten
Viele der Gebäude der abgelegenen Stadt wurden auf Stelzen errichtet, damit der Permafrostboden unter ihnen nicht abtaute. Die abgerundeten Ecken sollen die Wucht der rauen arktischen Winde bremsen. Mehrere Tunnel führen zum Bergwerk: Durch einen wurden die Bergleute zu und von der Anlage hin- und hertransportiert, der andere diente dem Abtransport der geförderten Kohle.
Ein ehemaliger Bauernhof
Am Südende liegt der verlassene Bauernhof der Stadt. In seiner Blütezeit bestand er aus einem Kuhstall, der für frische Milch und Rindfleisch sorgte, dazu ein Schweinestall, ein Hühnerstall und beheizte Gewächshäuser. Riesige Mengen Erde wurden vom Festland herangeschafft und alles von Tomaten über Salat bis hin zu Gurken angebaut.
Auch anderswo wurde um die Siedlung herum Erde verteilt, sodass hier im Sommer Gras wächst, im Gegensatz zu vielen anderen Teilen Spitzbergens, die völlig karg sind.
Schule und Kindergarten
Die nächsten Gebäude, die Ihnen begegnen, sind die Schule und der Kindergarten. Anders als in anderen Bergbausiedlungen auf Spitzbergen und in isolierten arktischen Vorposten überhaupt, in denen meist fast nur Männer lebten, war Pyramiden eine familienorientierte Gemeinschaft mit vielen Ehepaaren und Kindern.
Eine märchenhafte Wandmalerei
Vor der Schule steht ein farbenfrohes Wandgemälde, eines von vielen, die angelegt wurden, um den Ort zu verschönern. Es zeigt eine Szene aus der Froschprinzessin, einem der bekanntesten russischen Märchen.
Pyramiden mag heute trist und deprimierend wirken, aber es war einst eine geradezu utopische Gemeinde, die zu ihrer Blütezeit in den 1980er-Jahren über 1.000 Einwohner zählte.
Leere Klassenzimmer
Demnach zu urteilen, was noch überall herumliegt, wirkt dieses Klassenzimmer im ausgestorbenen Schulgebäude so, als wäre es urplötzlich verlassen worden. In den Regalen stapeln sich unordentlich die Schulbücher, auf dem Lehrerpult liegen Schreibsachen und sogar auf der Tafel steht noch etwas geschrieben.
Obwohl der Raum unverändert aussieht, befinden sich die Wände mit ihrer abblätternden Farbe in einem erbärmlichen Zustand.
Das Krankenhaus
Nach der Schule ist das Krankenhaus von Pyramiden unser nächster Anlaufpunkt. Man erkennt es leicht am grünen Relief auf der Außenwand, das den von einer Schlange umwundenen Äskulapstab darstellt, das traditionelle Symbol für Heilkunde und Medizin. Der Bau darf dieser Tage nicht mehr besichtigt werden, darum gehen wir weiter zur Stadt-Kantine.
Die ehemalige Kantine
Die Kantine, ein herrschaftlicher, pastellblau gestrichener Bau im neoklassizistischen Stil, war rund um die Uhr geöffnet. Die Einwohner von Pyramiden hatten keine Küchen in ihren Häusern. Sie mussten daher verpflegt werden und die Kantine machte das ausgezeichnet. Schließlich hatten die Köche dort auch in den langen, dunklen Wintern stets Zugriff auf Frischfleisch, Eier, Milch und Gemüse vom städtischen Bauernhof.
Ein prachtvolles Mosaik
Der zentrale Speisesaal ist innen so prächtig wie das Gebäude außen. Man erreicht ihn über eine reich verzierte Treppe. Am oberen Absatz befindet sich dieses atemberaubendes Mosaik-Wandbild, das eine idealisierte Spitzbergen-Landschaft zeigt, samt Eisbären, einem sibirischen Schlittenhund, einem Wikinger-Langschiff und einem Mann, von dem gut möglich ist, dass er Bragi darstellen soll, den nordischen Gott der Musik und Poesie. Er scheint eine „Tagelharpa“ zu spielen, also eine altnordische Pferdeschwanzhaar-Harfe.
Der Speisesaal
Der Raum ist typisch sowjetisch dekoriert, auch wenn die schicke Tapete und die edlen Holzmöbel nicht so streng sind, wie man es vielleicht erwarten würde. Die Inneneinrichter gingen sogar so weit, dass sie geschnitzte Zierholzabdeckungen über den Heizkörpern anbrachten.
Überall im Raum stehen vertrocknete Pflanzen, was den Eindruck noch verstärkt, dass die Stadt sehr plötzlich aufgegeben wurde.
Die Großküche
Im Gegensatz zum einigermaßen gepflegten Speisesaal ist die Küche der Kantine ein einziges Chaos. Die überdimensionierten Herde und Öfen sowie die industriellen Dunstabzugshauben sind halb verrostet, und Schutt bedeckt Teile des Fliesenbodens. Beachten Sie den knallroten Feuerlöscher aus der Sowjetzeit, der sich in der Mitte des Raums deutlich vom Umfeld abhebt.
Das Wohnviertel
Nur einen Steinwurf von der Kantine entfernt befinden sich die Wohnhäuser der Stadt. Alleinstehende Männer lebten in einer Wohnanlage, die den Namen „London“ trug. Die unverheirateten Frauen wohnten in einer zweiten mit dem Spitznamen „Paris“. Diese beherbergte eine Bar im Erdgeschoss.
Die Saisonarbeiter waren in noch einem anderen Bau namens „Gostinka“ untergebracht – russisch für „Hotel“.
Die Familienunterkünfte
Ehepaare mit Kindern wohnten dagegen in einer Anlage, die von den Bewohnern scherzhaft als das „Verrückte Haus“ bezeichnet wurde. Angeblich hieß es so, weil die Kinder in den langen, kalten Wintermonaten durch die Flure tobten.
Heute haben sich in dem Gebäude ebenso lautstarke Möwen niedergelassen, die auf den Fensterbänken nisten und der unheimlichen Geisterstadt einen Hauch von Hitchcock verleihen.
Der Kulturpalast
Unser nächster Stopp ist die Büste von Wladimir Lenin. Die Statue in Pyramiden ist die nördlichste des russischen Revolutionärs auf der ganzen Welt. Sie steht an prominenter Stelle vor dem Kulturpalast der Stadt.
Wie in vielen sowjetischen Gemeinden diente der Bau als ein Erholungs- und Unterhaltungszentrum. In Pyramiden enthielt er ein Kino/Theater, eine Bücherei, einen Kraftraum und eine Sporthalle.
Ein Ort, der beeindrucken sollte
Der Kulturpalast von Pyramiden war vollgepackt mit Annehmlichkeiten – schließlich sollte die Stadt eine kommunistische Mustersiedlung sein – und das verstärkte den Ruf der Gemeinde als idyllischer Wohnort noch weiter. Arbeitsverträge in Pyramiden waren hochbegehrt, und wer einen bekam und hierherziehen durfte, galt als ein Glückspilz.
Das große Auditorium
Das Auditorium, mit seinen samtig-roten Plüschsesseln, den holzvertäfelten Wänden und der geräumigen Bühne, galt als ein besonderer Glanzpunkt des Gebäudes. Hier fanden Konzerte und Theateraufführungen statt. Gleichzeitig diente der mit einem Projektor und einer riesigen Leinwand ausgestattete Raum als Kino.
Wenn Sie genau hinsehen, können Sie den Roten Oktober erspähen, den nördlichsten Klavierflügel der Welt.
Die gut erhaltene Sporthalle
Ebenso beeindruckend ist die Sporthalle. Sie wurde für Basketball-, Fußball- und andere Mannschaftssportarten genutzt und verfügt über Balustraden für die Zuschauer. Wie auch die Aula befindet sich die Anlage in einem bemerkenswert guten Zustand, wenn man bedenkt, dass sie seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr genutzt wird. Nebenan ist der Kraftraum, der ebenfalls gut erhalten ist.
Die große Bibliothek
Neben Sport und andere Freizeitaktivitäten wurde in Pyramiden auch die Bildung gefördert – zumindest, solange sie der kommunistischen Ideologie entsprach, darf man vermuten. Die Bibliothek des Kulturpalastes sollte demnach gut mit Büchern und Zeitschriften bestückt gewesen sein, sodass die Bewohner auch ihren Intellekt pflegen konnten.
Ein weitläufiger Sportkomplex
Wer weitergeht, stößt in der modernen Geisterstadt auf den Juri-Gargarin-Sportkomplex, benannt nach dem berühmten Kosmonauten und ersten Menschen im Weltall. Auf dem großen Außenplatz wurde im Sommer Fußball gespielt (in den kalten Monaten ging man dazu in die Halle des Kulturpalastes). Im Winter wurde er angeblich in eine Eishockeybahn umfunktioniert.
Das hochmoderne Schwimmbad
Der Sportkomplex beherbergt auch das mittlerweile längst trocken gelegte beheizbare Schwimmbad von Pyramiden. Dieses war damals ein sagenhafter Luxus, das als eine der größten Attraktionen der Stadt galt und sogar Besucher aus Longyearbyen anlockte. Man sagt, sie seien vor Neid darüber erblasst, dass die sowjetische Siedlung etwas derart Schickes besaß.
Die anderen Gebäude
Anderswo in der Stadt befinden sich die ehemalige Feuerwehr und das Gefängnis, ein geheimes KGB-Büro (das angeblich einen Ofen besaß, in dem sensible Unterlagen verbrannt wurden), mehrere Werkstätten und der überaus wichtige überdachte Schießstand. Da die Eisbären eine permanente Gefahr darstellten, trugen die Bewohner stets Gewehre bei sich. Und gut schießen zu können, war ein Muss.
Die Verwaltung
Im ehemaligen Büro der Verwaltung stehen die Tische und Stühle noch immer so, wie sie damals genutzt worden sein müssen. Papier liegt überall im Raum verstreut, der Putz blättert von den Wänden und die Pflanzen sind längst abgestorben – ein trostloser Anblick.
In dem Gebäude hatte der KGB seinen Sitz. In den Akten und auf den Fotos auf dem Schreibtisch ist vermutlich festgehalten, wie der Geheimdienst die früheren Einwohner der Stadt ausspähte.
Ein ungewöhnliches Haus aus Flaschen
Auf der Westseite der Stadt liegt das skurrile Flaschenhaus. Das ungewöhnliche Öko-Gebäude wurde 1983 aus angeblich 5.308 Flaschen konstruiert und diente als ein launiger Ort, um sich zu treffen und zu feiern.
Nach dem Kollaps der Sowjetunion 1991 und der anschließenden Wirtschaftskrise versiegten die großzügigen Subventionen, die Pyramiden und seine opulenten Anlagen unterhalten hatten. Denn rentabel war Pyramiden nie...
Eine Vorzeigestadt
Vielmehr war die Stadt eine Art Potemkinsches Dorf – eine vorgespielte Idealversion einer kommunistischen Siedlung. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR zeichnete sich ab, was kommen würde. Dass die Bodenschätze im Bergwerk Anfang der 1990er-Jahre zu versiegen begannen, beschleunigte den Untergang noch. Was noch an Kohle gefördert wurde, war qualitativ schlecht.
Mitte der 1990er-Jahre brach ein unterirdisches Feuer in der Grube aus. Damit war das Schicksal von Pyramiden als Geisterstadt endgültig besiegelt.
Der katastrophale Absturz
Der Kindergarten und die Schule schlossen Mitte der 1990er-Jahre, und die meisten Frauen und Kinder verließen die Stadt kurz danach. Das endgültige Aus brachte ein katastrophaler Flugzeugabsturz im August 1996.
Eine Chartermaschine der Vnukovo Airlines flog in einen Berg in der Nähe. Alle 141 Menschen an Bord starben. Viele von ihnen waren Minenarbeiter auf dem Weg nach Pyramiden.
Der Schlafsaal des Kindergartens
Im ehemaligen Schlafsaal des Kindergartens stehen zu beiden Seiten kleine Betten aufgereiht. An den Wänden hängen Bilder, die vermutlichen von den Kindern in Pyramiden gemalt wurden. Sie alle haben die Geisterstadt längst verlassen.
Totenglocke
Der Absturz war das tödlichste Flugzeugunglück in der Geschichte Norwegens. Es wirkte sich verheerend auf die Siedlung aus und besiegelte letztlich ihr Ende.
Arktikugol und die russische Regierung beschlossen im April 1998 das Bergwerk zu schließen und den Ort zu räumen. Innerhalb weniger Monate verließen auch die letzten Einwohner – deren Zahl bis dahin bereits auf nur noch ein paar hundert geschrumpft war – den Ort und ließen viele ihrer Habseligkeiten zurück.
Heute eine Touristenattraktion
Doch mittlerweile hat Pyramiden ein neues Dasein als Touristenattraktion gefunden. Das alte „London“-Wohngebäude wurde in ein Hotel umgewandelt – es eröffnete 2013 und wurde im Folgejahr renoviert – und zur Saison strömen Besucher in die Stadt.
Berichten zufolge lebt heute sogar eine Handvoll Einwohner permanent im Ort, darunter der Reiseführer Aleksandr „Sascha“ Romanovsky sowie ein paar Arbeiter, die die Gebäude unterhalten.
Der Herzschmerz der Alteingesessenen
Dass sich auch ehemalige Bewohner darunter befinden, ist leider unwahrscheinlich. Wie Romanovsky erzählt, kamen zwei frühere Pyramider – zu unterschiedlichen Anlässen – auf einen Besuch in die Stadt. Doch nahm es sie derart mit, die Siedlung in ihrem heutigen Zustand zu sehen, dass sie beide einen Herzinfarkt erlitten.
Wo früher Leben, Freude und Lachen herrschte, steht nun eine erfrorene Stadt am Ende der Welt, die nur noch ein dunkler Schatten ihres früheren Selbst ist.