The Social Pulse: Neue GNTM-Doku - ist "Germany's next Topmodel" ein Albtraum?
Seit 2006 läuft "Germany's next Topmodel" - kurz: GNTM - alljährlich über die deutschen Bildschirme. Doch in den vergangenen Jahren wurde die Kritik an der Sendung, ihrem Sender ProSieben und der Moderatorin Heidi Klum immer lauter. Eine neue Dokumentation wirft erneut ein Licht auf die wichtigsten Kritikpunkte - und lässt dabei auch ehemalige Kandidatinnen und Beteiligte zu Wort kommen.
Bei den STRG_F-Dokumentation von NDR und funk ist man schwierige Recherchen und die Beleuchtung von kontroversen Themen gewohnt. Doch so viel Angst wie die Kandidatinnen von "Germany's next Topmodel" hatten, vor die Kamera zu treten, habe man selten erlebt, heißt es gleich zu Beginn des 74-minütigen Berichts mit dem Titel "Druck, Hass, Manipulation: Wie kaputt macht Germany‘s Next Topmodel?". Zu groß sei die Sorge von öffentlicher Anfeindung oder Klagen durch ProSieben.
Mit mehr als 50 Teilnehmerinnen habe man gesprochen, teils anonym. Einige hätten von schönen Erlebnissen während ihrer Zeit bei der Casting-Show berichtet, andere hingegen von Überforderung, Einschüchterung, Manipulation oder Morddrohungen nach der Ausstrahlung.
So nennt Taynara Wolf, eine von neun Kandidatinnen, die sich vor Kamera interviewen ließen, GNTM "eine der besten Schulen für das Showbusiness". Sie habe gelernt, sich darzustellen, richtig zu reden, das Geschäft zu verstehen: "Das hätte mir keine Media School beibringen können."
Junge Mädchen, abgeschottet von der Außenwelt - und wo ist Heidi?
Heidi Klum wird als beeindruckende Erscheinung und charismatische Traumfrau beschrieben - doch zu Gesicht bekommen hätten die Kandidatinnen sie so gut wie nie, wenn die Kameras nicht liefen. "Wir wissen nicht, wer Heidi Klum ist oder wie sie ist. Heidi Klum war weit entfernt von uns", beschreibt es Tessa Bergmeier.
Stattdessen waren Heidis Mädchen bis zu drei Monaten in der Model-Villa eingesperrt - teilweise buchstäblich, denn verlassen durfte man die Villa nicht. "Keine Einflüsse von außen, ne?" so Lieselotte Reznicek, die als 67-Jährige teilgenommen hat. Telefonate zu Freunden und Familie wurden stark eingeschränkt, und, wie Nadine Wimmer-Bergmann beschreibt, "in den Telefonzimmern war bei mir immer jemand dabei - immer".
Eine Situation, die man mit dem Corona-Lockdown vergleichen kann. Dabei permanent gefilmt zu werden, beschreibt die Medienwissenschaftlerin Dr. Maya Götz als Extremsituation. "Sie sind den Kameras wirklich ausgeliefert." "Überall waren Kameras“, erklärt auch Simone Kowalski, die bei ihrer Teilnahme 19 Jahre alt war. "Alles wurde mit Ton und so aufgenommen. Irgendwann wurde uns verboten, rauszugehen. Man durfte nicht joggen gehen. Ich bin gar nicht klargekommen. Mental, körperlich, sozial auch nicht.“
Programmierter Zickenkrieg - die Folgen baden die Kandidatinnen aus
Durch lange Drehtage, fehlende Rückzugsräume, die Abschottung von der Außenwelt und dem großen Druck entstanden Spannungen, die dem Ex-Juror Peyman Amin zufolge durchaus gewollt waren. "Also welchen Content möchte Germany‘s Next Topmodel generieren, damit die Zuschauer interessiert an der Glotze bleiben? Wie kann man Zickenkrieg kreieren? Indem man die Tür abschließt und sagt, jetzt geht es los, fetzt euch!"
Du sagst ja nicht, ich bin jetzt die Zicke. Das habe ich auch nicht gedacht, und das bin ich auch nichtTessa Bergmeier
Heftige Kritik: Vor Kurzem beschäftigte sich auch das ZDF mit GNTM
Die Redakteure hätten aktiv in das Geschehen eingegriffen, um Drama zu kreieren und eine gezielte Dramaturgie zu erzielen, wie die Kandidatinnen erzählen. "Das Team hat einen oftmals getriggert", so Simone Kowalski. Den Rest hätte der Schnitt erledigt. "Sie besetzen vorher die Rollen. Du suchst dir deine Rolle nicht aus, wenn du da reingehst. Du sagst ja nicht, ich bin jetzt die Zicke. Das habe ich auch nicht gedacht, und das bin ich auch nicht", beschreibt es Tessa Bergmeier.
Die entsprechende Darstellung der Kandidatinnen wirkte sich jedoch auch darauf aus, ob GNTM das erhoffte Karrieresprungbrett ist oder nicht. Taynara Wolf, die als ehrgeizig, fröhlich und talentiert zu sehen war, blickt eher positiv auf ihre Teilnahme zurück, betont jedoch: "Es ist sehr wichtig, wie du am Ende ausgestrahlt wirst für dein Leben danach. Also es kann dir Chancen geben, aber es kann dir auch echt viel kaputt machen." So wie bei Lijana Kaggwa, die unvorteilhaft dargestellt wurde und nach der Sendung Opfer von Cybermobbing wurde: "Ich wäre definitiv nicht hingegangen, hätte man mir vorher erzählt, diese Rolle wirst du einnehmen."
Peyman Amin hält jedoch auch daran fest, dass GNTM-Anwärterinnen mittlerweile wissen müssten, worauf sie sich bei der Sendung einlassen. Und tatsächlich sind derartige Vorwürfe nicht neu. Mehrere ehemalige Kandidatinnen haben ProSieben und die Show nach ihrer Teilnahme angeprangert. Doch in einem Statement an das STRG_F streitet der Sender die Vorwürfe der Manipulation weiterhin ab. Und die Kandidatinnen betonen ihr junges Alter und die großen Versprechungen, die Mädchen mit Showbusiness-Träumen gemacht werden. "Als junger Mensch ist man sich noch nicht bewusst, dass jedes Wort gegen einen verwendet werden kann", sagt Kowalski.
Alleingelassen - und verklagt: Die Folgen von GNTM für die Kandidatinnen
Nach der Sendung sind die Mädchen auf sich gestellt - oft gilt dies selbst für diejenigen, die durch GNTM kurzfristig Erfolg haben. Nach der Show sei man "wie ein kleiner Fisch im Haifischbecken", sagt Nadine Wimmer-Bergmann. "Alle stürzen sich auf dich, du bist superinteressant für ein Jahr. Dann fängt die neue Staffel an." Verstehen könnten dies nur andere Kandidatinnen, weil sich sonst niemand vorstellen könne, "wie das da abgeht".
Für Tessa Bergmeier war es noch schlimmer: "In Deutschland war es so, dass mich niemand mehr haben wollte, nicht als Model, nicht in der Agentur". Sie habe den Stempel "schwierig" gehabt. Und nicht nur beruflich waren die Folgen zu spüren. "Jeder kannte einen damals, egal wo man hingegangen ist", so Bergmeier. Sie berichtet von Angstzuständen. "Ich wollte nicht mehr ich sein."
Lijana Kaggwa, die im vergangenen Jahr bereits mit heftiger Kritik an die Öffentlichkeit gegangen war, erzählt von Depressionen und Suizidgedanken. Sie habe irgendwann begonnen zu glauben, was die Leute schrieben: "Ich bin scheiße, wertlos, eine Hure, ein Affe und meiner Familie würde es eigentlich besser gehen, wenn ich nicht mehr existiere." Auch akute Drohungen und Übergriffe habe es gegeben. Darauf angesprochen, was ProSieben und Heidi Klum machen könnten, wird sie deutlich: "Hallo? Die haben drei Millionen Zuschauer. Dass sie einfach vorab mal ein Statement reinhauen." Auch Heidi Klum müsse ihre Stimme erheben.
—-
Anmerkung der Redaktion: Suizidgedanken sind häufig eine Folge psychischer Erkrankungen. Letztere können mit professioneller Hilfe gelindert und sogar geheilt werden. Wer Hilfe sucht, auch als Angehöriger, findet sie etwa bei der Telefonseelsorge unter der Rufnummer 0800 – 1110111 und 0800 – 1110222. Die Berater sind rund um die Uhr erreichbar, jeder Anruf ist anonym und kostenlos.
—-
Zu Beginn der Staffel von 2023 ist Derartiges schließlich geschehen, und Heidi Klum startete die erste Folge mit einem Statement zum Thema Cybermobbing. Lijana Kaggwa wiederum bekam nach ihren Enthüllungsvideos auf Social Media eine Unterlassungsklage von ProSieben serviert. Aktuell läuft bereits das zweite Gerichtsverfahren.
Macht GNTM konkret krank?
Bestimmte Aspekte an seiner eigenen Rolle bei GNTM bereut Peyman Amin mittlerweile, wie er in der Doku einräumt - beispielsweise, dass gertenschlanke Mädchen in der Sendung offen als "zu dick" betitelt oder eine Gewichtszunahme von zwei bis drei Kilos als Katastrophe dargestellt wurden. Dass dies enormen Einfluss auf - oftmals junge - Zuschauer*innen haben kann, belegt eine Studie von Dr. Maya Götz, bei der 1500 essgestörte Kinder und Jugendliche befragt wurden. Ein Drittel habe angegeben, dass GNTM einen Einfluss auf ihre Erkrankung gehabt habe.
Und auch einige Kandidatinnen hätten gestörtes Essverhalten gezeigt, wie Simone Kowalski bestätigt: "Viele, viele. Es wird das Äußerliche beurteilt, und ich selber bin auch ins Zweifeln gekommen, weil so ein großer Druck auf einem herrscht."
In der jüngsten Staffel schien ProSieben gezielt gegen das zunehmend schlechte GNTM-Image anzukämpfen. Abgesehen davon, dass seit einiger Zeit auch ältere, kleinere oder Plus-Size-Models mitmachen dürfen, wurden die Kandidatinnen auffällig oft beim Essen gezeigt, und in einer Folge gab es ein Psychologen-Coaching.
Ob dieses und das Statement von Klum Wirkung zeigen, muss sich zeigen. 2022 hatte das Model noch groß getönt: "Liebe Kritiker, ich muss Sie enttäuschen. Wir machen genauso weiter wie bisher."
Reaktionen zwischen Hoffnung und Resignation
In ersten Reaktionen auf die Sendung, die auf Youtube gepostet wurde, zeigt sich vielmehr die Hoffnung, dass sowohl Zuschauer*innen als auch potentiellen Kandidatinnen die Augen geöffnet werden. "Ich hoffe, dass diese Reportage viele, gerade junge Mädchen sehen damit sie nicht in diese 'Masche' reinfallen. Das was da passiert, ist einfach nur gruselig und erschreckend!! Und das alles nur für Einschaltquoten.", heißt es in den Kommentaren. Oder: "Finde und fand das Format schon immer wahnsinnig befremdlich. Danke, dass ihr darüber informiert und aufklärt!"
Die meisten Kommentare sind voll des Lobes über die reflektierte und gut recherchierte Sendung, doch zeigen sich andere auch skeptisch, was sie bewirken wird. "Die Probleme der Show sind doch schon seit vielen Jahren bekannt und jedes Jahr wenn es 'aufgedeckt' wird, wird eine Empörungswelle losgetreten. Bedenklich ist doch vielmehr der Umstand, dass trotz der bekannten Zustände dort nach wie vor viele daran teilnehmen wollen und es offenbar ebenso viele noch anschauen." Ein anderer Nutzer schreibt: "Gute und interessante Dokumentation. Das meiste was die Kandidatinnen erzählt haben kennt man jedoch schon."
Tessa Bergmeier äußert zum Abschluss der Doku ihre eigene Hoffnung, nämlich "dass es GNTM bald nicht mehr geben wird. Weil es diese Sendung einfach nicht braucht."
Im Video: "Germany's next Topmodel": Gibt es bald auch männliche Kandidaten?