Vergebung: Wie kann sie gelingen und was sind die Voraussetzungen?

Warum Vergebung für uns wichtig ist und wie sie gelingt

Unsere Autorin weiß heute: Vergebung schenkt Freiheit – und ist daher etwas, das man vor allem für sich selbst macht

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Stellen wir uns vor, uns passiert etwas Ungerechtes. Vielleicht verhält sich jemand uns gegenüber übergriffig oder respektlos. Vielleicht verletzt jemand uns oder einen uns nahestehenden Menschen psychisch oder physisch. Wie auch immer das, was uns angetan wurde, ganz genau aussehen mag – Gefühle, die man im Anschluss daran sehr wahrscheinlich empfindet, sind: Wut, Ärger oder Trauer. Für den Moment sind diese Emotionen angebracht und helfen dabei einzuordnen, was passiert ist. Wer allerdings in seinem Groll verharrt, nimmt sich selbst die Möglichkeit, loszulassen.

Eben hier kommt Vergebung ins Spiel. Ich habe mir in den vergangenen Jahren immer wieder Gedanken darüber gemacht, wie Vergebung gelingen kann, und warum es eher ein Weg als ein einmaliger Akt ist. Heute glaube ich: Um frei und mit einer gewissen Leichtigkeit leben zu können, ist Vergeben elementar. Im Folgenden gehe ich deshalb unter anderem den Fragen nach, inwiefern Vergebung besonders einem selbst hilft und was Voraussetzungen für das Vergeben sind.

Was bedeutet Vergebung?

Eine einfache Frage, deren Antwort meiner Meinung nach doch nicht direkt auf der Hand liegt. Vergebung heißt, sich von negativen Gefühlen gegenüber anderen Personen oder Geschehnissen, von denen man verletzt wurde oder die einen verletzt haben, zu distanzieren. „Vergebung bedeutet nicht, das Verhalten der anderen Person zu entschuldigen oder zu vergessen, was passiert ist. Es ist vielmehr ein Prozess, bei dem man sich bewusst entscheidet, sich selbst von den unangenehmen Emotionen zu befreien, die einen schon lange im Griff haben. Man gewinnt wieder etwas mehr Kontrolle über die eigenen Gefühle, anstatt von der Vergangenheit und gerade der Person, die einem wehgetan hat, bestimmt zu werden“, sagt Psychotherapeut und Autor Sina Haghiri.

Vergebung ist ein Prozess, bei dem man sich bewusst entscheidet, sich selbst von unangenehmen Emotionen zu befreien.

Psychotherapeut und Autor Sina Haghiri

Vergebung ist demnach also etwas sehr Bewusstes, für das man sich aktiv entscheidet. Mit Schwäche hat Vergebung folglich nichts zu tun, im Gegenteil. Es ist eine Form von Stärke und ein sich Freimachen vom Außen.

Wann Vergebung sinnvoll ist

Nehmen wir an, der Partner oder die Partnerin hat einen betrogen. Sofern man die Beziehung weiterführen und ein aufrichtig zufriedenes Leben gemeinsam führen möchte, muss man vergeben. Andernfalls bleiben immer negative Gefühle zurück, die auf Dauer schaden können, aber dazu gleich mehr. Auch im Falle einer Trennung macht Vergebung Sinn. Man befreit sich selbst aus der Opferrolle, verbleibt nicht in Passivität und kann einen Neuanfang ohne Ballast für sich gestalten.

Innerhalb der Familie kann Vergebung ebenfalls heilsam sein. In der Regel verschwinden Familienmitglieder, die einen mit welchem Verhalten auch immer verletzt haben, nicht einfach aus dem Leben. Vergibt man der jeweiligen Person nicht, bleiben die negativen Gefühle und können zu einer fortlaufenden Belastung werden. Vergebung nimmt vergangenen und künftigen Verletzungen ihre Macht und schafft eine heilende Distanz zu dem, was vorgefallen ist.

In der Terra Xplore-Folge „Den Tod der Tochter verzeihen – geht das?“ (zu finden in der ZDF-Mediathek) thematisiert Moderator und Psychologe Leon Winterscheid die wohl schwerste Form des Vergebens – und spricht hierfür mit Eltern, deren 14-jährige Tochter im Beisein des Freundes im Elternhaus an einem Mix aus Drogen verstorben ist. Der damalige Partner hat weder in der Nacht noch am Morgen Hilfe geholt oder je mit den Eltern darüber gesprochen, was vorgefallen ist. Dennoch haben die Eltern ihm vergeben, um weiterleben zu können.

Was passieren kann, wenn man nicht vergibt

„Wenn man an Verletzungen oder Enttäuschungen festhält, trägt man eine schwere emotionale Last mit sich herum – die schwierige Situation findet also kein Ende. Wenn das auch mit der Zeit nicht besser wird, kann es das eigene Wohlbefinden beeinträchtigen und dazu führen, dass man sich dauerhaft in Wut, Trauer oder Groll verfängt. Vergebung ist eine Möglichkeit, um uns von dieser Last zu befreien“, so Psychotherapeut Sina Haghiri.

Es darf selbstverständlich dauern, bis man bereit ist, zu vergeben. Aus eigener Erfahrung weiß ich allerdings, dass man sich zu jedem Zeitpunkt bewusst entscheiden muss. Vergebung ist nichts, was nach einiger Zeit von selbst passiert. Gedankenkreise können monate- oder sogar jahrelang anhalten. Das kann körperliche und mentale Folgen haben: Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2019 verdeutlicht, dass Menschen, die nicht vergeben und ihren Groll in sich behalten, unter anderem schlechter schlafen sowie unter Nervosität und sogar Herz-Kreislauf-Problemen leiden können.

4 Voraussetzungen für Vergebung

Sina Haghiri nennt vier grundlegende Voraussetzungen für Vergebung:

  1. Selbstreflexion: Bevor man vergeben kann, muss man zunächst erkennen und verstehen, was genau die Verletzung oder Enttäuschung ausgelöst hat. Vergebung setzt also voraus, dass man die eigene Verletzlichkeit anerkennt.

  2. Empathie: Um zu vergeben, ist es hilfreich, sich in die andere Person hineinzuversetzen. Dies bedeutet nicht, das schädliche Verhalten zu entschuldigen, sondern die Möglichkeit zu sehen, dass der andere vielleicht aus seinen eigenen Verletzungen oder Schwächen heraus gehandelt hat. Das kann zu etwas mehr Gelassenheit im Umgang mit eben diesen Schwächen führen und erleichtert dadurch die Vergebung.

  3. Abgrenzung und Selbstschutz: Vergebung ist oft leichter, wenn man sich sicher fühlt. Dies kann bedeuten, emotionale oder physische Distanz zu der Person oder der Situation zu schaffen, um sich selbst zu schützen.

  4. Zeit und Geduld: Vergebung ist kein einmaliger Akt, sondern ein Prozess. Es braucht oft Zeit, Wunden zu verarbeiten und den Punkt zu erreichen, an dem man tatsächlich loslassen kann. Ungeduld oder der Druck, „schnell“ zu vergeben, ist nicht hilfreich.

Um diese Voraussetzungen erfüllen zu können, ist meiner Meinung nach eine gewisse Arbeit mit sich selbst wesentlich. Ich habe durch eine Gesprächs- und Körpertherapie viel über mich und meine Wunden und tief verankerten Glaubenssätze gelernt und glaube, dass ich ohne dieses Wissen den Wert von Vergebung nicht so sehen und spüren könnte, wie ich es heute kann. Das bedeutet natürlich nicht, dass jede*r eine Therapie benötigt, um vergeben zu können – eine Auseinandersetzung mit sich selbst darf und sollte immer so stattfinden, wie es passend ist.

Wer vergibt, ist frei. Frei von Hass und allem, was einem leichten und bewussten Leben im Weg steht. Man vergibt also vor allem für sich selbst und die Menschen, die man liebt. Für mich gibt es keine schönere Motivation.