Kinder vegan ernähren? Das sagt eine Expertin

Ernährungsmedizinerin Dr. Elisabeth Rauh im exklusiven Interview

Kleines Mädchen isst Gemüse
Obst und Gemüse sind gesund und lecker – aber reichen sie auch aus, um Kinder mit allem zu versorgen, was sie benötigen? (Foto: Getty)

Einer Forsa-Umfrage zufolge ernähren sich zwölf Prozent der Menschen in Deutschland vegetarisch und drei Prozent vegan. Vor allem Frauen und jüngere Menschen unter 30 Jahren greifen vermehrt zu (rein) pflanzlicher Ernährung, weil sie neben der eigenen Gesundheit auch das Tierwohl und den Umweltschutz im Blick haben.

Doch während Erwachsene in der Lage sind, sich einerseits selbst für einen Lifestyle zu entscheiden und sich auch ausreichend über die Konsequenzen zu informieren, sieht das bei Kindern anders aus. Gegenüber Yahoo Life erzählt Dr. Elisabeth Rauh, Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie mit den Zusatzbezeichnungen Naturheilverfahren und Ernährungsmedizin, worauf vegan lebende Eltern bei der Ernährung ihrer Kinder achten sollten. Und sie erklärt, warum Essen viel mehr ist als reine Nahrungsaufnahme.

Was würden Sie Eltern entgegnen, die zu Ihnen kommen und Ihnen sagen, dass sie ihr Kind vegan ernähren möchten?

Dr. Elisabeth Rauh: "Ich würde nicht sagen, dass das gar nicht geht. Zunächst würde ich die Eltern daraufhin abchecken, ob sie einen guten Überblick über Ernährungstherapie haben und wissen, wie sie die nötige Nährstoffaufnahme für ihr Kind sichern können. Eine weitere Frage wäre, ob sie bereit dazu sind, das im Verlauf laborchemisch kontrollieren zu lassen. Bei einer veganen Ernährung muss man auf jeden Fall Vitamin B12 substituieren, da es nur in tierischen Lebensmitteln wie Käse, Eiern oder Fleisch enthalten ist. Der Körper braucht es für das Wachstum, das Gehirn und die Blutbildung, was im Kinder- und Jugendalter besonders wichtig ist. Man bringt seinem Kind also bei, dass man zwar isst, aber gleichzeitig auch Tabletten dazunehmen muss. Wenn ich dann weiß, dass die Eltern all diese Bedingungen erfüllen, würde ich sagen: Ja, können Sie machen!"

Worauf sollten Eltern bei veganer Ernährung besonders achten?

"Außer dem Vitamin B12 kann man von Vitamin D über Jod, Zink und Selen alles kompensieren. Viel Eisen steckt zum Beispiel in Linsen oder Brokkoli. Vitamin B2 können Nüsse liefern oder Pilze, Kalzium steckt in Grünkohl oder Sesam und in Bohnen viel Vitamin B. Weil sich die Muskulatur noch ausbildet, haben Kinder auch einen höheren Proteinbedarf. Die kann man besonders gut über Tofu, Bohnen, Nüsse, Hafer, Kartoffeln und wiederum Brokkoli aufnehmen.

Eine wichtige Rolle spielen auch Pflanzenöle. Rapsöl hat einen schlechten Ruf, ist aber tatsächlich wahnsinnig gesund. Das Schöne daran ist, dass man das auch regional kaufen kann und damit zusätzlich eine ökologische Komponente hat."

Wo sehen Sie Schwierigkeiten?

"Ich finde es völlig in Ordnung, wenn eine Familie sagt, wir möchten uns vegan ernähren. Die Frage ist, wie flexibel und open-minded man dann noch ist. Was ist zum Beispiel, wenn das Kind bei anderen Leuten eingeladen ist oder ein Kindergartenkind ihm sein Osterei anbietet? Essen hat eine sehr soziale Komponente, und da würde ich empfehlen, zu sagen: Zu Hause essen wir vegan, aber ich möchte nicht, dass mein Kind eine abgegrenzte Sonderrolle einnimmt. Man sollte sein Kind also auch einmal andere als vegane Sachen essen und ausprobieren lassen. Wenn man das nicht zu eng sieht, sind überwiegend vegan ernährte Kinder gesunde und auch schlankere Kinder in einer Zeit, in der wir ein Problem mit Fettleibigkeit haben."

Drei Mädchen essen am Tisch und lachen
Die soziale Komponente von Essen ist wesentlich und sollte niemanden ausgrenzen. (Foto: Getty)

Diese Offenheit sorgt wahrscheinlich auch dafür, dass Kinder Essen vor allem mit Genuss und Freude und nicht vorrangig mit Verboten assoziieren sollen?

"Man sollte Lebensmittel generell nicht als schlecht oder gut labeln. Es ist wichtig, dass wir in unserer Gesellschaft Gesamtverantwortung übernehmen und auf das Tierwohl achten, das finde ich toll. Das sollte im Umkehrschluss aber nicht zu einer Abwertung und Ausgrenzung anderer Dinge führen. Kinder sollten wissen, dass sie sich auch eine eigene Meinung bilden und experimentieren dürfen. Wie bei Süßigkeiten führen strikte Verbote entweder in die Heimlichkeit oder dazu, dass man übertreibt, wenn man die Chance dazu bekommt."

Gibt es ein Alter, unter dem Sie eine vegane Ernährung nicht empfehlen würden?

"Das Kind muss sich organisch in der Familie ernähren, weshalb ich keine künstliche Grenze setzen würde. Für den Fall, dass die vegane Ernährung in der Familie gar nicht so sehr verwurzelt ist, würde ich sagen: je später, desto besser. Dann würde ich wirklich versuchen, bis zum Alter von 16 Jahren Zeit zu gewinnen. Mit 16 Jahren sind Menschen körperlich schon sehr weit, bei Mädchen hat normalerweise die Periode eingesetzt und es werden keine Wachstumsprozesse mehr gestört. Die Kinder sollen offen sein und herausfinden können, was ihnen schmeckt. In diesem Zusammenhang spielt auch das Thema Essstörungen eine Rolle."

Inwiefern?

"Essstörungen haben viele Ursachen, aber nur einen Auslöser, und das ist eine Diät. Es fängt mit einer selektiven Nahrungsmittelauswahl an und kann dann immer weiter gehen. Das Risiko ist vergleichbar mit Drogenkonsum. Viele Schüler trinken Alkohol und machen eine Zeitlang Komasaufen, ohne dass langfristig Schlimmeres passiert. Aber ein paar davon werden alkoholkrank. Deshalb muss man ein Gefühl dafür bekommen, dass eine plötzliche Ernährungsumstellung auf strenge vegane Ernährung eine Risikosituation darstellen kann. Dazu gehört auch, wenn man nicht mehr gemeinsam isst und für einzelne Familienmitglieder extra gekocht wird. Das macht Gemeinschaft komplizierter. Und die ist ein extrem starker Schutz für psychisches Wohlbefinden."

Wie könnten denn vegan lebende Eltern einen Mittelweg finden zwischen ihrer Überzeugung und dem Wunsch, ihrem Kind auch nichts vorzuenthalten?

"Ein Kompromiss könnte so aussehen, dass man in der Woche vielleicht einen oder zwei vegane Tag macht, einen vegetarischen, aber auch Mischkosttage. In der Familie soll jeder gehört werden, aber ich würde die Familie nicht auseinanderdriften lassen. Es geht immer um Kompromisse und darum, zu vermeiden, dass das Thema Ursprung von Streit, Ausgrenzung und alleine essen wird. Kinder und Jugendliche sprechen am meisten mit den Eltern, wenn sie gemeinsam am Tisch sitzen. Und diese gemeinsamen Mahlzeiten wirken extrem präventiv."

Dr. Elisabeth Rauh
Dr. Elisabeth Rauh plädiert dafür, beim Thema Ernährung nicht zu restriktiv zu sein. (Foto: Schön Klinik)

Unsere Expertin: Dr. Elisabeth Rauh

Dr. Elisabeth Rauh leitet als Chefärztin das Fachzentrum für Psychosomatik der Schön Klinik in Bad Staffelstein. Sie ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie mit den Zusatzbezeichnungen Naturheilverfahren und Ernährungsmedizin. Daneben ist sie Mitglied der Bayerischen Direktorenkonferenz Psychosomatik und des Bundesfachverbands für Essstörungen.