Unbekannt und unsichtbar: Warum Frauen in der Wissenschaft so oft übersehen werden – das steckt hinter dem Matilda-Effekt

Rosalind Franklin

Die Wissenschaftlerin Rosalind Franklin an einem Mikroskop. Die Anerkennung ihrer Arbeit an der DNA blieb ihr lange verwehrt – genau wie vielen anderen Frauen in der Forschung. Dieses Phänomen wird auch Matilda-Effekt genannt

Getty Images, Universal History Archive

Es ist das Jahr 1962. Die Wissenschaftler Maurice Wilkins, Francis Crick und James Watson werden für die Entdeckung der DNA-Doppelhelix mit dem Nobelpreis der Medizin ausgezeichnet. Wer mit keinem Wort erwähnt wird? Die Biochemikerin Rosalind Franklin. Dabei ist sie es, die ursprünglich sowohl die Röntgenaufnahmen als auch die richtige Interpretation zur DNA-Struktur lieferte.

Die Männer hatten die unveröffentlichen Daten von Rosalind Franklin ohne ihr Wissen bekommen und für die eigene Arbeit genutzt. Damit ist die Wissenschaftlerin nicht alleine – es gibt zahlreiche Beispiele, die zeigen: Die Erfolge von Frauen in der Forschung wurden in der Vergangenheit übersehen, vergessen, minimiert. Für dieses Phänomen gibt es sogar einen eigenen Begriff: der Matilda-Effekt.

Das steckt hinter dem Matilda-Effekt

Der Matilda-Effekt geht zurück auf die Frauenrechtlerin und Soziologin Matilda Joslyn Gage. Sie schrieb bereits im Jahr 1870 das Schriftstück „Woman as Inventor“ („Die Frau als Erfinderin“) – ein 32-seitiges Pamphlet, das sie mit den Worten „Es mag vielen unbekannt sein, dass die Erfindung der Baumwollspinnmaschine, eine der größten mechanischen Errungenschaften der Neuzeit, einer Frau zu verdanken ist“, beginnt. Damit stellt sich die Aktivistin gegen die damals vorherrschende Meinung, Frauen wären für die Wissenschaft nicht begabt genug und besäßen keinen erfinderischen Drang. Stattdessen klärt sie auf, indem sie Erfindungen und Durchbrüche von Frauen vorstellt.

Später wurde die Wissenschaftshistorikerin Margaret W. Rossiter auf diesen Text aufmerksam und verfasste den Essay „The Matilda Effect in Science“ („Der Matilda-Effekt in der Wissenschaft“). Darin thematisiert sie die systematische Nicht-Beachtung von Frauen in der Forschung und analysiert sie anhand von zahlreichen Beispielen. „Wenn die Wissenschaft meritokratisch sein will und die Wissenschaftsgeschichte dieses reflektieren soll, dann sollten ähnliche oder gleiche Leistungen auch ähnlich anerkannt und belohnt werden. Doch dies ist in der Geschichte von Frauen selten der Fall“, schreibt sie. Und weil sie zum Schluss kommt, dass dieses Phänomen einen Namen braucht, bezieht sie sich auf Matilda Joslyn Gage und benennt den Effekt nach ihr.

Vielen Frauen in der Forschung blieb die Anerkennung verwehrt

Die Liste an Beispielen für den Matilda-Effekt ist lang. Neben Rosalind Franklin ist eines der bekanntesten Beispiele wahrscheinlich die Entdeckung der Kernspaltung – denn daran forschten der Chemiker Otto Hahn und die Physikerin Lise Meitner in Zusammenarbeit. Doch lediglich Otto Hahn wurde für die gemeinsame Leistung mit dem Nobelpreis geehrt. Lise Meitner wurde zwar ganze 48 Mal (!) für die Auszeichnung vorgeschlagen – und ging am Ende trotzdem leer aus.

Oder der Fall der Mondlandung 1969: Die Astronauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin sind den meisten bekannt. Dabei war noch eine dritte Person maßgeblich für den Erfolg der Mission verantwortlich: die Mathematikerin Margaret Hamilton. Sie entwickelte als Mitarbeiterin am Massachusetts Institute of Technology (MIT) die Navigationssoftware für den Bordcomputer der Apollo 11. Der Computercode umfasste 40.000 Kommandozeilen, die es ermöglichten, die Rakete zum Mond und wieder zurück zu lenken. Revolutionär! Trotzdem blieb dieser Erfolg jahrzehntelang unbekannt.

Wissenschaftlerin Lise Meitner und Otto Hahn

Chemiker Otto Hahn und Physikerin Lise Meitner. Zusammen entdeckten sie die Kernspaltung – doch nur Hahn wird dafür mit dem Nobelpreis ausgezeichnet

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Der Matilda-Effekt – oder: die Frau im Schatten

Dass Frauen in der Wissenschaft so oft unsichtbar blieben, hat System – woher das kommt? Zum einen hatten Frauen lange keinen Zugang zu Bildung und Universitäten. Sie konnten meist weder als Autorinnen für Studien, noch als Professorinnen oder Lehrstuhlinhaberinnen arbeiten. Zum anderen war es ein strukturelles Problem, das Frauen aktiv ausklammerte. In Studien, Büchern und Forschungsarbeiten wurden die Namen von mitarbeitenden Frauen seltener genannt. Ein Beispiel dafür ist etwa die erste Ausgabe von „American Men of Science“ von 1906. Das Buch enthielt zwar auch die Namen von vielen Frauen – doch wurde das mit dem gewählten Titel bewusst heruntergespielt. Bis 1971 blieb der Titel der Buchreihe so, erst dann wurde er zu „American Men and Women of Science“ geändert.

Gemeinsame Forschung, aber keine gemeinsame Anerkennung

Dazu kam, dass es oft Wissenschaftsehepaare gab, die zwar zusammenarbeiteten, aber nicht gemeinsam anerkannt wurden. Das geschah beispielsweise bei Ruth Hubbard und George Wald: Die Forscherin hatte in den 50er-Jahren eigenständig an der Biochemie der Sehkraft geforscht. Doch nach ihrer Heirat wurden diese früheren Arbeiten George Wald mitangerechnet. Später wurde er sogar mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Auch die Kristallforscherin Isabella Karle erlebte ähnliches: Obwohl sie fast 50 Jahre lang in Zusammenarbeit mit ihrem Mann Jerome geforscht hatte, wurden sie nicht gemeinsam mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Stattdessen wurde ihr Mann zusammen mit einem anderen Kollegen geehrt.

Der Matilda-Effekt heute

Obwohl Frauen heute einen leichteren Zugang zu Naturwissenschaften haben, ist der Matilda-Effekt weiterhin spürbar. Eine Studie von Statista hat die Verteilung der Nobelpreise zwischen 1901 bis 2024 nach Geschlechtern analyisert. Demnach sind nur 6,5 Prozent der Preisträger*innen Frauen. In den naturwissenschaftlichen Kategorien ist der Frauenanteil sogar noch geringer. Und auch die Nobelpreisverleihung 2024 bestätigt das: Unter den 11 Preisträger*innen war die Schriftstellerin Han Kang die einzige Frau. Selbst an den Universitäten ist die Gender Gap nach wie vor ein Thema. Denn nur rund 35 Prozent der MINT-Studienanfänger*innen 2022 in Deutschland waren Frauen. Bei den Professor*innen waren es 2023 nur 29 Prozent.

Der Weg hinaus: die Wissenschaft entstigmatisieren

Um diese Ungleichheit langfristig zu mildern und auszugleichen, brauchen Frauen eine größere Plattform – ob in Studien, in Fachinterviews oder Dokumentationen. Denn Sichtbarkeit lässt Entstigmatisierung zu. Sorgt dafür, dass Wissenschaft nicht länger als angeblich „männliches“ Feld wahrgenommen wird. Und inspiriert Mädchen und junge Frauen vielleicht dazu, eine wissenschaftliche Karriere anzustreben.

Oder – um es mit den Worten von Margaret W. Rossiter auszudrücken: „Wenn es uns gelingt, [...] dieses jahrhundertealte Phänomen bekannt zu machen, so kann dies vielleicht dazu beitragen, dass jetzige und künftige Wissenschaftler(innen) eine ausgewogenere Geschichte und Soziologie der Wissenschaft betreiben, die nicht nur die >Matildas< nicht länger vernachlässigt, sondern uns noch weitere von ihnen ins Gedächtnis ruft.“