Better Life: Leben ohne Vorstellungskraft - wie wirkt sich Aphantasie aus?

Etwas vor dem inneren Auge sehen - für die meisten von uns ist das eine Selbstverständlichkeit. Doch vielen Menschen ist es schlichtweg nicht möglich, imaginäre Bilder von Ereignissen, Personen oder Szenarien in ihrem Kopf entstehen zu lassen. Sie haben Aphantasie.

Mann blickt auf Stadt
Menschen mit Aphantasie wissen faktisch, wie die eigene Wohnung oder das Gesicht eines geliebten Menschen aussieht. Sie können diese Bilder aber nicht vor dem inneren Auge sehen. (Symbolbild)

Was ist Aphantasie?

Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich Ihre letzte Mahlzeit vor. Welche Farben hatten die einzelnen Zutaten? Oder versuchen Sie, sich Ihre Eltern vorzustellen. Wie bewegen sie sich, wie sehen sie aus, wenn sie lächeln? Funktioniert das Kopfkino? Falls nicht, könnte es sein, dass Sie an Aphantasie leiden.

Vorsicht: Aphantasie bedeutet jedoch nicht, dass man sich Dinge nicht ins Gedächtnis rufen kann. Ein Beispiel: Während viele Menschen sich ihre letzte Mahlzeit genau vorstellen und detailliert beschreiben können, erinnern sich "Aphantasist*innen" zwar generell an die Mahlzeit und auch an Details (sie wissen also etwa, dass sie Schnitzel mit Pommes und Ketchup gegessen haben), sie können diese aber nicht bildlich in ihrem Kopf sehen.

Aphantasia kommt aus dem Griechischen. "Phantasia" war das Wort, mit dem Aristoteles eine ausgeprägte Fähigkeit zwischen Wahrnehmung und Denken beschrieb - eine Art „sechster Sinn“. „Phantasia“ wird meist mit "Vorstellungskraft" übersetzt. Das "a" in a-phantasia bezeichnet dagegen ihre Abwesenheit.

Forschung zu Aphantasie

Dieser Mangel an geistiger Vorstellungskraft wurde bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschrieben, ist aber immer noch ein relativ unerforschtes Phänomen. Der britische Universalgelehrte und Halbcousin von Charles Darwin, Francis Galton, beschrieb es erstmals 1880 in einem Artikel über mentale Bilder. Er stellte nicht nur fest, dass Menschen bei der Beschreibung ihrer mentalen visuellen Bilder unterschiedliche Grade an Lebendigkeit erleben, sondern berichtete auch, dass einige Menschen überhaupt keine visuellen Bilder erleben. Ihren Namen und damit auch mehr Aufmerksamkeit erhielt die Aphantasie erst um das Jahr 2015. Hirnforscher Adam Zeman von der University of Exeter bezeichnete den Zustand damals in einem Fachartikel erstmals als Aphantasie. Medien wie die "New York Times" oder das "Discover Magazine" griffen das Thema auf und sorgten damit für seine weitere Verbreitung.

Es ist sehr wichtig zu sagen, dass es keine Krankheit ist. Einfach, weil wir keinen besonders hohen Leidensdruck bei Betroffenen feststellen.Merlin Monzel, Betroffener von Aphantasie und Psychologe an der Universität Bonn

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Ursachen und Behandlung von Aphantasie

Da die Forschung zu Aphantasie noch in den Kinderschuhen steckt, weiß man bislang auch nicht, was ihre Ursachen sind. Im Wesentlichen funktioniert mentale Vorstellungskraft durch ein Zusammenspiel verschiedener Teile des Gehirns. Bereiche wie der Frontal-, Parietal-, Temporal- und Okzipitallappen greifen dabei auf gespeicherte Erinnerungen zurück und erzeugen mentale Bilder in unserem Geist. Bei "Aphantasist*innen" verarbeitet das Gehirn visuelle Informationen anders. Wissenschaftler:innen vermuten, dass die Zusammenarbeit der notwendigen Gehirnareale bei Menschen mit Aphantasie gestört sein könnte.

Neuronen
Bei Aphantasie können gespeicherte Erinnerungen nicht in Bilder in unseren Köpfen umgewandelt werden. (Symbolbild)

Aphantasie kann nach heutigem Wissensstand durch traumatische Hirnverletzungen entstehen. Meist ist sie jedoch angeboren und tritt in Familien gehäuft auf. Betroffene können ihr Vorstellungsvermögen durch spezielle Übungen zwar trainieren, eine vollständige Heilung ist allerdings nicht möglich.

Verschiedene Formen von Aphantasie

Wie Aphantasie sich zeigt, kann sehr unterschiedlich sein. So kann sie sich beispielsweise auch auf andere Sinne erstrecken. Manche Betroffene können sich beispielsweise keine Geräusche, Geschmäcker, Gerüche oder Berührungen vorstellen. Übrigens: Auch bei Nicht-Betroffenen ist die Vorstellungskraft ganz unterschiedlich ausgeprägt. Man kann sie als Spektrum begreifen:

  • Aphantasia: keine Fähigkeit, Bilder im Geist zu visualisieren

  • Hypophantasia: verminderte Fähigkeit, Bilder im Geist zu visualisieren

  • Phantasia: Fähigkeit, Dinge im Geist zu visualisieren, „inneres Auge“

  • Hyperphantasia: Fähigkeit, sehr lebendige und detaillierte mentale Bilder zu erzeugen

Träumen Menschen mit Aphantasie?

Obwohl Aphantasist*innen im Wachzustand keine Bilder vor ihrem geistigen Auge visualisieren können, träumen viele von ihnen bildhaft. Das ergab eine Studie. Forschende vermuten, dass die Einschränkung der Vorstellungskraft sich lediglich auf den Wachzustand bezieht, also auf bewusste visuelle Vorstellungen.

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Betroffene ohne Leidensdruck

Aphantasie ist aber keine Krankheit. Letztendlich verarbeitet das Gehirn von Menschen mit Aphantasie Informationen nur anders und nutzt dafür andere Gehirnregionen – so erklärt es Merlin Monzel, Betroffener von Aphantasie und Psychologe an der Universität Bonn, in einem Interview mit Deutschlandfunk Nova. Er betont: "Es ist sehr wichtig zu sagen, dass es keine Krankheit ist. Einfach, weil wir keinen besonders hohen Leidensdruck bei Betroffenen feststellen. Und das ist eben definierend für eine psychische Krankheit."

Viele Menschen merken erst spät oder ihr Leben lang nicht, dass sie betroffen sind. Aufforderungen, Schafe zu zählen oder etwas im Geiste genau "anzuschauen", werden als Metaphern aufgefasst. Menschen mit Aphantasie erkennen daher oft nicht, dass sie anders denken als die meisten Menschen. Sie sind sich nicht bewusst, dass die meisten Menschen die Bilder, die sie in ihrem Kopf erzeugen, tatsächlich "sehen" können.

Tagtraum
Tagträume oder Kopfkino - Menschen mit Aphantasie sind diese Dinge fremd. (Symbolbild)

Auswirkungen auf das tägliche Leben

Visuelle und räumliche Bilder spielen eine wichtige Rolle im autobiografischen Gedächtnis. Eine Studie ergab, dass Menschen die lebendige, hochauflösende mentale Bilder von Objekten und Szenen erzeugen können, persönliche Erinnerungen schneller und detaillierter abrufen können. Eine andere Studie zeigt: Menschen mit Aphantasie erinnern sich problemlos an autobiografische Fakten. Aber sie berichten von weniger Details und insgesamt von einem weniger emotionalen Erlebnis, obwohl sie die Ereignisse als wichtig oder persönlich relevant beschreiben. Kinder mit Aphantasie können in der Schule Probleme haben, wenn es um Aufgaben geht, die bildliches Vorstellungsvermögen erfordern. Ein Beispiel: "Stell dir vor, du hast drei Birnen. Du nimmst eine Birne weg..."

Wie sehr beeinflusst Aphantasie also das Leben Betroffener? Man könnte es folgendermaßen erklären: So wie Linkshänder sich in einer Welt der Rechtshänder zurechtfinden, entwickeln auch Menschen mit Aphantasie Strategien, um problemlos im Alltag zurechtzukommen. Dass Aphantasie keineswegs kein Hindernis ist, um einen kreativen Beruf auszuüben, zeigt etwa die Karriere von Glenn Keane. Der Oscar-prämierte Zeichner hinter Disney-Klassikern wie "Arielle, die Meerjungfrau" ist "innerlich blind". Trotzdem wurde er von Ed Catmull, dem ehemaligen Präsidenten von Pixar und den Walt Disney Studios, in einem Interview mit der BBC als "einer der besten Animatoren in der Geschichte der handgezeichneten Animation" beschrieben. Übrigens: Auch Ed Catmull ist Aphantasist.

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