Hype um die Abnehmspritze: Wie sie wirkt und für wen sie gedacht ist

Adipositas-Experte im exklusiven Interview

Junge Frau spritzt sich Semaglutid
Eine Spritze pro Woche und das Gewicht geht automatisch herunter? So einfach wirkt die sogenannte Abnehmspritze nicht bei allen Patient*innen. (Symbilbild: Getty Images)

Spätestens seit Elon Musk verraten hat, sich mit der Abnehmspritze Wegovy behandeln zu lassen, ist ein regelrechter Hype um das Medikament entstanden. Für alle, die sich selbst zu dick finden oder es aus medizinischer Sicht tatsächlich sind, scheint der Traum, ohne viel Arbeit und Verzicht schlank zu werden, auf einmal ganz leicht wahr werden zu können.

Gegenüber Yahoo Life erklärt der Adipositas-Experte Dr. Johannes Sander, für wen das Medikament überhaupt in Frage kommt, welche Auswirkungen es auf den Körper hat und welche Alternativen es schon jetzt gibt. Zudem äußert sich der Chefarzt der Hamburger Adipositas-Klinik der Schön Klinik zu Menschen, die das Medikament ohne medizinische Indikation als praktischen Schlankmacher verwenden und wagt einen Blick in die Zukunft der medikamentösen Adipositas-Behandlung.

Dr. Johannes Sander: Der Wirkstoff ist bei beiden der gleiche, nämlich Semaglutid, welches ein GLP-1-Analogon ist. Der Hintergrund ist: Bei Adipositas-Patient*innen, die eine Magenbypass- oder Schlauchmagen-Operation hatten, konnte man beobachten, dass die Konzentration des Hormons GLP-1 angestiegen ist. Das Hormon wird im Magen-Darm-Trakt produziert und steuert unter anderem das Hunger- und Sättigungsgefühl. Ersteres war bei den operierten Patient*innen reduziert, letzteres setzte früher ein. Zudem ist das Glücksgefühl, das zum Beispiel beim Essen von Süßigkeiten entsteht, nicht mehr so ausgeprägt. Das nehmen viele Patientinnen und Patienten als große Erleichterung wahr.

Semaglutid wird seit Jahren in der Diabetes-Therapie eingesetzt und ist kein neues Medikament. Es sorgt dafür, dass die Bauchspeicheldrüse die Insulinproduktion verbessert. Quasi als Nebenwirkung hat man beobachtet, dass die Patient*innen auch Gewicht verloren haben, woraufhin es sich die Industrie zur Aufgabe gemacht hat, das GLP-1 auch in der Adipositas-Behandlung zu testen. Bei Ozempic handelt es sich um Semaglutid mit Zulassung zur Diabetes-Therapie. Beim Einsatz hat man gesehen, dass der Gewichtsverlust der Patient*innen viel stärker als beim Vorgängerpräparat war. Und deswegen hat man dann auch zum ersten Mal große Studien zum Einsatz bei Adipositas durchgeführt.

Die Erkenntnis der letzten 20 Jahre ist, dass Übergewicht eine chronische, neuroendokrine Erkrankung ist. Wir wissen, dass diese Menschen in der Regel nicht unter einer Willensschwäche leiden, was ihnen oft unterstellt wird. Wir sehen pro Jahr bis zu 2000 neue Patientinnen und Patienten in unserer Klinik, die einen Body-Mass-Index zwischen 35 und 90 haben. Das sind die Menschen, die über 10, 20, 30 Jahre lang Ratschläge bekommen haben, dass sie einfach weniger essen und sich mehr bewegen sollen. Aber das funktioniert so nicht.

Wenn diese Menschen starten, ihr Gewicht durch eine radikale Diät aktiv zu reduzieren, wird ein genetischer Mechanismus im Körper in Gang gesetzt, der automatisch eine Gegenwehr auslöst und evolutionär als perfekter Schutz vor dem Verhungern dient. Diäten triggern das nur und führen dazu, dass das Gewicht danach wieder ansteigt. Es geht also um eine Fehlsteuerung der Hormonbalance und Nervenverschaltungen zwischen Darm und Gehirn, die diese Erkrankung chronisch werden lässt.

Ärztin misst Bauchumfang eines Mannes
Studien zeigen, dass mit Semaglutid behandelte Patient*innen bis zu 20 Prozent Körpergewicht verlieren. (Symbolbild: Getty Images)

Wenn die neuroendokrine Erkrankung Fahrt aufgenommen hat, ist es wichtig, sie so früh wie möglich zu behandeln. Das ist nicht anders als bei anderen Krankheiten auch. Die Basistherapie der chronischen Erkrankung Adipositas besteht immer aus Sport und Ernährungstherapie. Oft kann dadurch ein weiterer Gewichtsanstieg gebremst und manchmal sogar das Gewicht reduziert werden. Wenn das nicht funktioniert und die Patienten einen Body-Mass-Index von 30 erreicht oder überschritten haben, weiß man, dass die Erkrankung ein neues Level erreicht hat. Ihr Übergewicht ist nicht mehr nur ein "kosmetisches Problem", jetzt drohen auch gesundheitliche Gefahren.

Diese Patienten sind weit davon entfernt, dass man sie operieren dürfte, nämlich ab einem BMI von 40 oder BMI ab 35 mit Folgeerkrankung. Hier schließen die Medikamente zum ersten Mal zuversichtlich und nach derzeitigem Wissensstand mit niedrigem Nebenwirkungspotenzial eine riesige therapeutische Lücke. Mit ihnen kann man Adipositas-Patienten mit einem BMI ab 30 oder ab 27 mit einer Folgeerkrankung behandeln.

Wenn andere Erkrankungen als Ursache für das Übergewicht ausgeschlossen wurden und es keine Kontraindikationen gegen das Medikament gibt, kann der Arzt oder die Ärztin ein Rezept ausstellen. Wenn man Wegovy dann trotz der Lieferschwierigkeiten bekommt, kann die Therapie beginnen. Das Medikament selbst befindet sich in einer Fertigspritze. Bei Wegovy startet man mit einer Dosis von 0,25 Milligramm. Das spritzt man sich ein Mal in der Woche selbst ins Fettgewebe.

Danach muss man gemeinsam mit der behandelnden Ärztin beziehungsweise dem behandelnden Arzt beobachten, wie sich die Wirkung entwickelt, denn nicht alle Patientinnen und Patienten sprechen auch darauf an. Der spezifische Faktor GLP1 wirkt nicht bei allen. Es handelt sich eben nur um einen einzelnen Angriffspunkt. Daneben es gibt unzählige Hormone und Regelkreise, die unser Gewicht steuern und im Zweifel hochhalten. Ein anderes Medikament, das medial noch nicht so viel Beachtung findet, ist da schon einen Schritt weiter.

Bereits seit Ende 2023 ist ein Präparat mit dem Wirkstoff Tirzepatid auf dem Markt, das in den Zulassungsstudien tatsächlich noch besser als das Semaglutid wirkt. Darin stecken gleich zwei Wirkstoffe.

Studien zeigen, dass adipöse Patientinnen und Patienten mit Semaglutid im Schnitt 15-20 Prozent Gewicht verlieren. Bei über 30 Prozent sind es aber weniger als 5 Prozent Gewichtsverlust. Worüber man sich im Klaren sein muss: Da es sich um eine chronische, neuroendokrine Stoffwechselerkrankung handelt, muss die Behandlung wie bei jeder anderen chronischen Erkrankung auch lebenslang erfolgen. Wenn man es absetzt, nehmen die Patientinnen und Patienten in der Regel wieder zu. Deshalb ist auch die begleitende Ernährungs- und Sporttherapie so wichtig.

Junge Frau beim Sport
Sport ist zwar gut, hilft bei Adipositas aber nur unterstützend. (Symbolbild: Getty Images)

Es gibt ja für die Verschreibung eine klare Indikation: BMI über 27 mit Begleiterkrankung, ansonsten BMI über 30. Dann sind alle auf der sicheren Seite. Für alles andere gibt es keine Zulassung. Ich persönlich würde es außerhalb der Indikation nicht ohne weiteres verschreiben. Prinzipiell spricht aber nichts dagegen, wenn ein Arzt das im Off-Label-Use trotzdem macht, der Patient über die Risiken aufgeklärt wird und möglicherweise ohnehin Selbstzahler ist. Dann befindet man sich aber deutlich in der Lifestyle-Schiene und jeder erwachsene Mensch sollte für sich selbst Nutzen und Risiko abwägen. Viele plastisch-chirurgische Eingriffe werden ja nach diesem Prinzip durchgeführt.

Ohne Kostenübernahme bleibt die Behandlung eine Frage des sozialen Status

Adipositas ist zwar als chronische Erkrankung vom Bundestag anerkannt worden, die Adipositas-Therapie, vor allem die medikamentöse, läuft aber nach wie vor unter einem "Lifestyle-Paragrafen". Darin steht, dass Maßnahmen zur Gewichtsreduktion als Lifestyle zu bewerten sind und nicht zulasten der GKV gehen dürfen.

Wenn die Studien aber weiterhin zeigen, dass es nicht "nur" um Gewichtsreduktion geht, sondern die Patientinnen und Patienten tatsächlich gesünder werden und beispielsweise seltener Folgeerkrankungen wie Diabetes Typ 2 oder Herzinfarkte entwickeln, dann wird es für die Krankenkassen und Sozialgerichte immer schwieriger, bei entsprechender Indikation eine Kostenübernahme zu verweigern.

Wir kennen diese Entwicklung aus der Adipositaschirurgie. Lange Zeit war es sehr schwierig, den Eingriff erstattet zu bekommen. Nach und nach haben aber immer mehr Studienergebnisse den hervorragenden Nutzen der Operation bestätigt und heute ist nach entsprechender leitliniengerechter Vorbehandlung die Bezahlung der Operation in den meisten Fällen gesichert.

Die Startdosis kostet zwischen 170 bis 250 Euro im Monat. Dann steigert man bei beiden Präparaten über 6 Monate hinweg die Dosis, und wenn man die Höchstdosis erreicht hat, ist man schnell bei über 300 Euro im Monat. Wenn es da auch in Zukunft keine Kostenübernahme gibt oder verbilligte Medikamente, bleibt die Behandlung eine Frage des sozialen Status.

Chefarzt Dr. Johannes Sander. (Foto: Klaus Becker)
Chefarzt Dr. Johannes Sander. (Foto: Klaus Becker)

Dr. Johannes Sander ist seit 2020 Chefarzt der Adipositas Klinik der Schön Klinik in Hamburg Eilbek, in der vor allem Magenbypass- und Schlauchmagen-Operationen durchgeführt werden. Der Facharzt für Allgemein- und spezielle Viszeralchirurgie sowie Ernährungsmedizin ist unter anderem Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) und dem Berufsverband der Deutschen Chirurgen (BDC).