Experten()Wissen: Was man über Waldbaden wissen sollte

Manchmal hilft nur noch eine Umarmung. Dass man dafür nicht unbedingt einen anderen Menschen braucht, zeigt eine Frau aus China. Die Frau, die sich Qishishiqi nennt, veröffentlichte ein Foto, das sie in inniger Umarmung mit einem Baum zeigt. Sie ist eine von vielen, die auf die heilende Kraft von Bäumen schwört. "Waldbaden" heißt der Trend, der nicht nur bei Stadtbewohner*innen immer mehr Anklang findet.

Frau umarmt Baum
Einatmen, ausatmen und ganz bewusst eintauchen in die Natur - beim Waldbaden geht es langsam und achtsam zu. (Bild: Getty Images)

Wir haben mit Martin Kiem, Psychologe, Coach und Waldtherapie-Führer, darüber gesprochen, wo Spazierengehen aufhört und Waldbaden beginnt, worauf man dabei achten sollte und was man sich vom regelmäßigen Eintauchen in den Wald erwarten kann.

Umarmung mit einem Baum: Ein Schnappschuss geht viral

"Tree Hugger", also "Baumumarmer", nannte man in den 60er Jahren Umweltschützer*innen und Hippies mit einer leicht abfälligen Konnotation. Die Chinesin Qishishiqi gehört zu einer neuen Generation von "Tree Huggern" - und sie nimmt den Begriff wörtlich. Ein Foto, das Qishishiqi auf der Social-Media-Plattform Xiaohongshu veröffentlichte und das sie in inniger Umarmung mit einem Baum zeigt, ging kurz nach seiner Veröffentlichung viral.

Wie Qishishiqi in einem Interview mit der Online-Ausgabe der "South China Morning Post" erzählt, zeigt das Foto ihre erste Umarmung mit einem Baum. Sie habe in einem Artikel über die heilende Wirkung von Bäumen gelesen. Auf dem Heimweg von einer Bar zusammen mit ihrem Ehemann war es dann soweit: Sie umarmte einen mächtigen, rund tausend Jahre alten Baum. Wie von Zauberhand, so erzählt sie, verschwand plötzlich ihr Tinnitus, mit dem sie immer wieder durch Stress zu kämpfen hatte. Seitdem sucht sie regelmäßig die Begegnung mit Bäumen. "Sie hören dir zu, still und geduldig", erklärt die Chinesin.

Frau spaziert alleine im Wald
Wälder in ihrer ganzen Vielfalt erfüllen dreierlei Funktionen: die Nutz-, Schutz- und Erholungsfunktion. Beim Waldbaden profitieren wir von letzterer. (Bild: Getty)

Waldbaden vs. Spazierengehen

Was Qishishiqi beschreibt, können viele Anhänger*innen des "Waldbadens" bestätigen. Hinter dem Begriff verbirgt sich ein langsames und achtsames Eintauchen in die Natur, bei dem die Sinne geöffnet werden sollen. So erklärt es Natur- und Waldtherapie-Führer Martin Kiem im Interview mit Yahoo Life. Die natürliche Umgebung wird beim Waldbaden bewusst wahrgenommen, man atmet die frische Waldluft und lauscht den Geräuschen der Natur. Das Ziel ist nicht nur körperliche Bewegung, sondern der Aufbau einer Verbindung mit der Natur und die Förderung von Entspannung, Stressabbau und mentaler Klarheit.

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Shirin-yoku: heimischer als gedacht

Im Zusammenhang mit dem Begriff Waldbaden stößt man auch immer wieder auf einen anderen Ausdruck: shirin-yoku. Kommt der Trend also aus Japan?

"Shirin-yoku wurde in den 1980er Jahren als Marketingkampagne ins Leben gerufen. Regierung und Behörden wollten Naherholungsangebote für die gestressten Japaner*innen schaffen. Deshalb wird es manchmal als sehr exotisch oder urjapanisch verkauft. Es hat sich aber herausgestellt, dass kurz bevor dieses Konzept entwickelt wurde, eine japanische Delegation in Deutschland war und sich ein sehr spannendes deutsches Konzept angeschaut hat - nämlich das Konzept der Erholungswälder. Das hat sie begeistert, genauso wie die Kneipp-Methode. Kurz darauf entstand in Japan shirin-yoku". Shirin-yoku, das Waldbaden, ist also vielleicht heimischer, als wir denken.

Wirkung von Waldbaden: Das sagt die Studienlage

In den 1990er Jahren begannen Forscher*innen, die physiologischen Vorteile des Waldbadens zu untersuchen. Seither sind einige Studien zum Waldbaden entstanden. Martin Kiem rät jedoch, diese mit Vorsicht zu interpretieren. "Das Studiendesign war zum Teil fragwürdig, es gab auch keine vergleichbaren Kontrollgruppen. Grundsätzlich brauchen wir noch viel mehr Daten, um gesicherte Aussagen treffen zu können", erklärt Kiem. Aussagen wie "ein 30-minütiger Waldspaziergang wirkt antikarzinogen, weil er zu einem Anstieg der Killerzellen im Körper um bis zu 30 Prozent führt", schaffen laut Kiem eine unglaublich gefährliche Erwartungshaltung. "Klar ist: Waldbaden hat eine immunstärkende Wirkung, ähnlich wie Kneipp oder Reizstromtherapie". Klar ist auch: Ein Waldspaziergang baut in der Regel Stress ab, indem er den Parasympathikus aktiviert und den Cortisolspiegel senkt. Er stärkt die Abwehrkräfte und verhilft zu mehr innerer Widerstandskraft.

Wissenschaftlich lässt sich das laut Kiem unter anderem mit der "Old-Friends-Hypothese" erklären: Wenn wir unsere oft sehr sterilen Alltagsräume verlassen, treffen wir beim Aufenthalt in der Natur auf "alte Freunde". Damit sind vor allem verschiedene Mikroorganismen gemeint. Im Umgang mit ihnen wird unser Immunsystem trainiert und aktiviert. Das kommt uns und unserem Wohlbefinden auf verschiedenen Ebenen zugute.

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Medizin für jeden

Kann sich also jeder vom Waldbaden dasselbe als spürbare Wirkung erwarten? Martin Kiem beantwortet diese Frage mit einem Zitat von Amos Clifford, einem der Vorreiter des Waldbadens in den Vereinigten Staaten: "'Ich bin mir bewusst, dass der Wald bei jedem Besuch für jede Person eine Medizin bereithält.' Aber nicht Medizin im klassisch pharmakologischen, sondern im traditionellen indigenen Verständnis: Alles das, was uns gut tut. Das kann Ruhe sein oder eine schmerzhafte Emotion. Es kann ein schöner Vogelgesang sein. Das heißt, der Wald hält für jeden eine Medizin bereit. Was das genau sein wird, weiß niemand vorher." In diesem Mysterium liegt auch die Schönheit und Faszination des Waldbadens, da ist sich Martin Kiem sicher.

Der Wald hält uns den Spiegel vor

Das macht die Erfahrung im Wald also zu einer sehr individuellen. Für manche Menschen sei es sehr schwierig, in Stille an einem Platz im Wald zu verweilen, erzählt Kiem, der regelmäßig Führungen im Wald veranstaltet. "Die sind richtig angefressen, die werden unruhig. Aber genau das ist dann eine Erkenntnis, die man mitnehmen kann. Warum ist es gerade so schwer für mich, diese Ruhe und Zeit mit mir selbst zu ertragen? Woher kommt diese innere Unruhe? Das bräuchte manchmal vielleicht viele Coaching-Stunden, um diesen akkumulierten Stress 'herauszumassieren'."

Waldbaden: eine Checkliste

Menschen, die das Waldbaden versuchen möchten, empfiehlt Kiem, eine Sache abzulegen und ein paar andere mitzunehmen: "Ablegen sollten wir eine Erwartungshaltung. Waldbaden sollte man nicht zielorientiert, sondern gegenwartsbezogen. Man sollte diesen Erwartungsdruck von einem selbst und auch vom Wald nehmen. Man muss vom Tun ins Sein kommen. Einfach mal rausgehen, spüren und wahrnehmen." Mitnehmen sollte man in den Wald unbedingt genügend warme und bequeme Kleidung. Der Wald besitzt ein Mikroklima und auch während der warmen Jahreszeit kann es hier kühl werden.

"Wenn wir uns entspannen und der Parasympathikus aktiviert wird, sinkt auch die Körpertemperatur. Wenn wir innen auskühlen und es draußen frisch ist, frieren wir", erklärt Kiem. Natürlich sollte man auch an die eigene Sicherheit denken. "Manche Städter haben das 'Bambi-Syndrom', sie romantisieren die Natur also zu sehr. Nichts ist gefährlich, alles ist schön. Das ist nicht der Fall. Wenn also ein Gewitter oder ein Sturm aufzieht: Raus! Alles Gute kommt von oben, aber nicht im Wald. Herabfallende Äste können lebensgefährlich sein", warnt der Wald-Coach. Ob man lieber allein oder in einer Gruppe zum Waldbaden aufbricht, bleibt dabei jedem selbst überlassen.

Paar packt für Waldbaden-Spaziergang
Warme, bequeme Kleidung ist beim Waldbaden ein Muss. Besonders empfehlenswert: der Zwiebellook mit mehreren Schichten. (Bild: Getty)

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Grüne Pille: Natur auf Rezept

Auch viele Schulmediziner*innen scheinen mittlerweile von der heilenden Wirkung von Wäldern überzeugt zu sein. In Kanada können Ärzt*innen ihren Patient*innen sogenannte "Park Prescriptions" verschreiben.

Wer diese einlöst und in der Nähe eines Nationalparks wohnt, erhält eine kostenlose Eintrittskarte. Ähnliche Projekte gibt es in Schottland und den USA. Ob und wie sich "Natur auf Rezept" auf die Patient*innen auswirkt, haben Forscher*innen aus Australien untersucht. Im Rahmen einer Übersichtsarbeit haben Professorin Xiaoqi Feng und Professor Thomas Astell-Burt und ihr Team 28 frühere Studien ausgewählt. Anschließend wurden die Daten gesammelt, verglichen und ausgewertet. Das Ergebnis: Der Aufenthalt in der Natur, auch wenn er ärztlich verordnet ist, hat erhebliche Auswirkungen auf unsere Gesundheit.

So ging etwa der Blutdruck der Teilnehmer*innen nach unten, sie erlebten eine Verringerung von Depressionen und Angststörungen und zudem steigerten sie ihre tägliche Schrittzahl. Wären ähnliche Maßnahmen auch bei uns in Deutschland sinnvoll? Martin Kiem bejaht dies: "So etwas kann einem die Tür öffnen, die man sonst vielleicht gar nicht wahrnehmen würde. Manche Menschen kommen so vielleicht auf den Geschmack, rauszugehen und die Natur zu erleben. Und dann braucht man vielleicht gar keine Verschreibung mehr."

Martin Kiem (Foto: Tourismusverein Partschins, Rabland, Töll, Helmuth Rier)
Martin Kiem (Foto: Tourismusverein Partschins, Rabland, Töll, Helmuth Rier)

Unser Experte

Nach seinem Psychologiestudium in Innsbruck arbeitete Martin Kiem lange Jahre als Arbeits- und Organisationspsychologe und Coach in Sydney, Australien. Seit seiner Rückkehr nach Europa konzentriert er sich verstärkt auf naturbasierte Ansätze zur Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden. Hierfür entwickelte er einen eigenen Zertifikatslehrgang. Er besitzt verschiedene Zusatzausbildungen in Natur- und Waldtherapie, Ernährungscoaching , Biofeedback, Positive Neuroplastiziät Training und Permakultur.

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